Erstpublikation in: Martin,J.-P.(1992): "Literatur und
Selbstreflexion auf der Oberstufe", In: Bömmel,H.v./Christ,H./Wendt,M.(Hg.):
Lernen und Lehren fremder Sprachen. Tübingen.130-146.
Jean-Pol Martin
Literatur und
Selbstreflexion auf der Oberstufe
Drei Beispiele aus der Praxis
Was bewegt Schüler auf der Oberstufe?
Die Jugendpsychologie nennt für die Altersstufe zwischen
17 und 20 drei Entwicklungsaufgaben: die Ablösung vom Elternhaus, die Bewältigung der
Sexualität und der Aufbau eines stabilen Wertsystems(1). Natürlich erkennen die Jugendlichen die
Aufgabenfelder als solche nicht. Sie nehmen nur die damit verbundenen Probleme und die
entsprechenden Gefühle wahr. Es ist zunächst ihre Ohnmacht, die sie in der
Auseinandersetzung mit der Erwachsenenwelt sowohl zu Hause als auch im Klassenzimmer
erleben. Dann ist es die Sexualität als solche, mit deren Forderungen sie noch
nicht gelernt haben, steuernd umzugehen. Schließlich bewegt sie das "Böse" in
der Welt, für das sie in ihren Wertsystemen noch keinen Platz finden wollen(2).
Im folgenden soll auf dem Hintergrund von
Unterrichtsprotokollen schlaglichtartig gezeigt werden, wie diese Fragen im Zusammenhang
mit der Behandlung literarischer Epochen thematisiert und als Ausgangspunkt zur
Selbstreflexion(3)
dienen können.
Zum technischen Ablauf des Unterrichts
Der hier zu beschreibende Unterricht verläuft in der Form
eines "Durchziehers" durch die Geschichte und die Literatur, vom Mittelalter bis
zur Gegenwart. Für jede Epoche wird zunächst der historische Kontext geschildert, bevor
einzelne Werke zur Aktualisierung der Subjektperspektive herangezogen werden.
Die Schüler halten Kurzreferate auf der Grundlage von
Texten, die aus Lagarde/ Michard entnommen werden. Nach dem Vortrag wird ein vom
jeweiligen Referenten angefertigter Lückentext an die Klasse ausgeteilt und unter seiner
Leitung ausgefüllt(4).
1. Die Ohnmacht
Es bietet sich an, die Thematisierung der Ohnmacht im
Zusammenhang mit der Behandlung des Absolutismus vorzunehmen. Im weiteren Verlauf des
Unterrichts wird sich, in dem Maße, wie die zu untersuchenden Epochen komplexer werden,
auch das Denken der Schüler ausdifferenzieren, so daß die Erörterung der Ohnmacht
später erneut stattfinden wird, aber im wesentlich vielschichtigeren Kontext des 20.
Jahrhunderts und eingebettet in die Reflexion über das "Böse" in der Welt.
1.1 Das 17. Jahrhundert und der Absolutismus
Bei der Darstellung des 17. Jahrhunderts werden u.a. die
Themen La société et la cour und Louis XIV et le classicisme erörtert
und nach den entsprechenden Kurzreferaten folgende Lückentexte bearbeitet(5):
Le XVIIe siècle, siècle
classique
(...)
La société et la cour
La vie des nobles se partage entre l'................ La
cour, c'est seulement Versailles. Le roi est entouré d'un.......... par la
noblesse, et celle-ci est fère de s'occuper du roi. Elle se trouve donc tout à fait
domestiquée. Versailles est le centre d'attraction pour toutes les ambitions et tous les
talents. C'est la cour qui fixe la..............., le goût et le bon ton. Les bourgeois
imitent le ............... de la noblesse sans avoir la possibilité de venir à la cour.
Pour être quelquun en France, il faut avoir été présenté au roi...........
Vocabulaire
(culte - style de vie - morale - au moins une fois -
armée et la cour)
Louis XIV et le classicisme
Louis XIV avait, heureusement pour les écrivains contemporains, le bon goût de les
aimer et de les ......, par exemple Molière, Racine, Boileau, Bossuet. II tolérait
certaines audaces et une ...... de leur part, en ce qui concerne la façon d'écrire.
Même s'il n'aimait pas un écrivain, comme La Fontaine, il ne l'opprimait pas tellement,
il se contentait, comme par exemple pour celui-ci, de retarder son élection à
l'.................... Il était content à l'idée d'être considéré plus tard comme le
protecteur libéral des ..... et des ...... par la postérité.
Vocabulaire
(Académie française - certaine indépendance - protéger
- arts - lettres)
Kennzeichen des absolutistischen Staates ist die
Konzentration von Macht in einigen wenigen Händen. Diese Struktur strahlt auf alle
Bereiche der Gesellschaft aus, bis in die Familie hinein. So übt der Vater eine absolute
Herrschaft über die Familienmitglieder aus, er bestimmt beispielsweise, wen seine Tochter
heiraten soll.
Wie reagiert der einzelne angesichts der strukturellen
Übermacht des Herrschers, des hierarchisch Höheren oder des Familienoberhauptes? Wenn
sein Wohlergehen derartig von der Gunst des ihm Übergeordneten abhängt, welche
Charakterzüge werden sich bei ihm zwangsläufg ausprägen?
1.2 Valère in L'Avare
(Acte II, scène 2): Valère erläutert Elise, die
er heiraten möchte, wie er sich ihrem Vater Harpagon gegenüber verhalten muß, um sein
Ziel zu erreichen.
Valère: - Vous voyez comme je m'y prends, et les adroites
complaisances qu'il m'a fallu remettre en usage poour m'introduire à son service; sous
quel masque de sympathie et de rapports de sentiments je me déguise pour lui plaire, et
quel personnage je joue tous les jours avec lui afin d'acquérir sa tendresse. J'y fais
des progrès admirables, et j'éprouve que, pour gagner les hommes, il n'est point de
meilleure voie que de se parer à leurs yeux de leurs défauts et applaudir à ce qu'ils
font. On n'a que faire d'avoir peur de trop charger la complaisance, et la manière dont
on les joue a beau être visible, les plus fins toujours sont de grandes dupes du côté
de la flatterie, et il n'y a rien de si impertinent et de si ridicule qu'on ne
fasse avaler lorsqu'on l'assaisonne en louange. La sincérité souffre un peu au métier
que je fais; mais, quand on a besoin des hommes, il faut bien s'ajuster à eux, et
puisqu'on ne saurait les gagner que par là, ce n'est pas la faute de ceux qui flattent,
mais de ceux qui veulent être flattés.
Dem Vater nach dem Munde reden, auf seine Leidenschaften
schmeichelnd eingehen: die Heuchelei, das scheint die Eigenschaft zu sein, die
absolutistische Herrschaftsstrukturen hervorbringen. Der negative Charakterzug läßt sich
nicht moralisch verurteilen, er ist notwendig zum Überleben.
1.3 Der Schüler im Klassenzimmer
Die im historischen Kontext aufgedeckte Korrelation
zwischen der strukturell induzierten Ohnmacht und der Heuchelei läßt sich auf die
Situation von Jugendlichen anwenden. Um die Schüler auf diese Parallelen aufmerksam zu
machen, wird folgendes Blatt verteilt und besprochen:
Les rapports entre le pouvoir absolu et l'hypocrisie
Lorsque le pouvoir est tout-puissant, les individus
dépendent de son bon vouloir. Pour atteindre ses buts, parfois même seulement pour
subsister, il faut être soutenu par le monarque. Ainsi les auteurs dédient leurs
ouvrages aux puissants (à un prince ou une princesse). Ceux qui ne le font pas sont
réduits à la mendicité. Comme ces gens sont contraints de dire des choses qu'ils ne
pensent pas vraiment, une des qualités majeures pour réussir est l'hypocrisie.
On constate ceci dans tous les régimes dictatoriaux, par
exemple en RDA avant la chute du régime.
Réfléchis maintenant à ta propre existence et à tes
propres observations.
Dans quels domaines de ta vie es-tu contraint au mensonge
et à l'hypocrisie?
.....................................................................................................................................................
.....................................................................................................................................................
(Compare avec ton voisin)
Quelles seraient les conséquences pour toi si tu disais
toujours la vérité? Pense à des situations concrètes.
.....................................................................................................................................................
.....................................................................................................................................................
(Compare avec ton voisin)
Il est probable qu'à l'école on soit contraint de mentir
souvent, ou du moins à ne pas dire ce yu'on pense de négatif (ou même de positif par
peur de passer pour un "lécheur").
Peut-on distinguer divers degrés
d «obligation au mensonge » suivant les types de cours et de
professeurs?
.....................................................................................................................................................
.....................................................................................................................................................
(Compare avec ton voisin)
Par quelles mesures méthodiques et structurelles peut-on
diminuer cet effet d'hypocrisie en cours?
.....................................................................................................................................................
.....................................................................................................................................................
(Essaie d'élaborer une stratégie avec ton voisin)
Die Schüler beschreiben in der Tat anhand von zahlreichen
Beispielen, daß der Druck zur Anpassung ein bestimmendes Moment von Schule darstellt und
daß Heuchelei zu den wichtigsten Bestandteilen ihres Verhaltensrepertoires zählt. Bei
dieser Sequenz geht es allerdings nicht darum, die geschilderte Situation zu verdammen,
sondern sie zu erkennen, um sie, wenn möglich, zu entschärfen.
2. Die Sexualität
In der Schule wird die Sexualität selten thematisiert.
Das liegt nicht zuletzt daran, daß die Lehrer selbst - wie alle anderen Menschen auch -
mit diesem Teil menschlicher Lebensbewältigung ihre Probleme haben. Die eigenen Begierden
als solche erkennen und akzeptieren, in der Lage sein, kontrolliert mit ihnen umzugehen,
zugeben, daß man Wünsche hat, die im gesellschaftlichen Kontext verpönt sind, und
erklären, wie man sie in sozial geduldete Bahnen lenkt, all dies verlangt
Ausgeglichenheit und Selbstbewußtsein.
Das 18. Jahrhundert, das im Anschluß an die Klassik
behandelt wird, eignet sich als Ausgangspunkt für die Erörterung dieses Themas: im Zuge
der Aufklärung fand im siècle des lumières eine Auseinandersetzung mit
den überlieferten Wertsystemen statt, die sich insbesondere auf das Gebiet der
Sexualmoral auswirkte.
2.1 Lockerung der Moral im 18. Jahrhundert
Wie bei den anderen Epochen werden zum 18. Jahrhundert
Kurzreferate gehalten und die dazugehörigen Lückentexte ausgefüllt. Verteilt wird
folgender Text:(6)
Le XVllle siècle, siècle des
lumières
(...)
IV. Les moeurs
Au XVIII siècle,
après la mort de Louis XIV, on lutta contre ............ à la cour et cela fut la cause
d'une ........ et d'une grande................ Lesjouissances furent considérées comme
importantes et les passions et les instincts furent réhabilités par les philosophes
(contrairement au christianisme), parce qu'on croyait au bonheur. La conséquence de cette
évolution était un .................. Les moeurs devinrent extrêmes et immorales, et
dans la société se répandit une sorte de demi-monde de gentilhommes et d'aventuriers.
On montre beaucoup de frivolité: Les problèmes graves sont considérés comme.........,
la vie est tenue pour un ................. En 1750, Rousseau écrit son premier
discours dans lequel il s'oppose à cette décadence des moeurs et avec cela il plaide
pour le goût de la vie simple, du sentiment et de la vertu.
Vocabulaire
(confusion sociale - moeurs - légers - l'austérité -
jeu - épicurisme facile - démoralisation)
Mit diesem Kurzreferat wird also der Verfall der Moral im
18. Jahrhundert geschildert. Während des Schülervortrages wird dem zuhörenden Lehrer
aber klar, daß die Referenten und ihre Mitschüler diesen Prozeß weder historisch noch
philosophisch einordnen können. Deshalb muß er intervenieren und auf die größeren
Zusammenhänge hinweisen, also auf die Infragestellung der Kirche als moralische Instanz
durch die Aufklärung und auf das dadurch entstandene moralische Vakuum: Wenn es Gott
nicht mehr gibt, welchen Sinn mag der einzelne seinem Leben verleihen? Es gibt viele
Antworten, insbesondere die der Hedonisten. Es kannmt aber darauf an, ob die Suche nach
dem Glück geregelt und "sittlich" erfolgt, oder aber ausschweifend und
menschenfeindlich, wie im Werk des Marquis de Sade oder bei Choderlos de Laclos in Les
liaisons dangereuses.
Die Fragen an die Schüler lauten:
- Wie läßt sich erklären, daß der Mensch Freude am Leid
anderer Menschen empfinden kann (Sadismus)?
- Wie läßt sich erklären, daß der Mensch Freude am
eigenen Leiden empfinden kann (Masochismus)?
- Wie ist es bei Euch? Habt Ihr auch solche
"Gefühle"? Denkt nach und - wenn ihr wollt - redet darüber mit Eurem Nachbarn.
- Wie lassen sich solche Regungen "in den Griff"
bekommen?
- Wenn es keinen Gott gibt, was hält mich davon ab, das
"Böse" zu tun?
Bei der so eingeleiteten Introspektion stellen die
Schüler fest, daß auch sie einige der genannten, gesellschaftlich geächteten Neigungen
in sich verspüren. Sie erkennen, daß diese Tendenzen allen Menschen gemeinsam sind, daß
sie sich also nicht moralisch schuldig fühlen müssen. Ausschlaggebend ist nicht, ob man
verpönte Begierden trägt, sondern wie man mit ihnen umgeht.
2.2 Candide
Ein distanzierter und dennoch genußvoller Umgang mit der
Sexualität läßt sich bei der Behandlung von Candide vorführen. Obwohl diese Schrift
einer trockenen Materie gewidmet ist, gelingt es Voltaire, die philosophische Botschaft in
einen sinnlich frivolen Diskurs einzubetten und dadurch ein breites Publikum zu erreichen.
So läßt sich das sexuelle Element zähmen und zur anspruchsvollen, abstrakten und
gleichzeitig vergnüglichen Reflexion dosiert instrumentalisieren. Allerdings muß der
Leser, um das Werk zu genießen, die zahlreichen Anspielungen erkennen und zu deuten
wissen.
Die Candide-Ausgabe wird ausgeteilt und die Schüler lesen
ohne Einführung das erste Kapitel in Partnerarbeit. An ihren Reaktionen merkt der Lehrer,
daß sie Voltaires Andeutungen nicht begreifen. So z.B. an der folgenden Stelle:
Un jour, Cunégonde, en se promenant auprès du château,
dans le petit bois qu'on appelait parc, vit entre des broussailles le docteur Pangloss qui
donnait une leçon de physique expérimentale à la femme de chambre de sa mère, petite
brune très jolie et très docile. Comme mademoiselle Cunégonde avait beaucoup de
disposition poour les sciences, elle observa, sans souffler, les expériences réitérées
dont elle fut témoin; elle vit clairement la raison suffusante du docteur, les effets et
les causes, et s'en retourna tout agitée, toute pensive, toute remplie du désir d'être
savante, songeant qu'elle pourrait bien être la raison suffisante du jeune Candide, qui
pouvait aussi être la sienne.
Nachdem sie sich etwa 20 Minuten mit dem ersten Kapitel
befaßt haben, liest der Lehrer selbst den Text noch einmal auf französisch und versucht,
durch seine Betonung, die Satire zu verdeutlichen. Auch dies fruchtet nicht. Schließlich
übersetzt er die Passage ins Deutsche. Aber selbst dann ist zu spüren, daß die Schüler
die Ironie nicht richtig begreifen und den Text sicherlich "doof" finden.
Deshalb muß der Lehrer die Aufmerksamkeit der Schüler
auf die Stellen lenken, die sie übersehen haben. Da sie nicht daran gewöhnt sind, Texte
mit sexuellen Anspielungen in der Schule zu beleuchten, interpretiert der Lehrer nun
selbst und in aller Deutlichkeit die Passagen, in denen Voltaire mit Hilfe ironisch
verfremdeter "wissenschaftlicher" Termini "anstößige" Sachverhalte
evoziert, so z.B. la raison suffisante du docteur. Diesmal verstehen die Schüler.
Sie finden nun einen völlig anderen Zugang zum Text, und dessen Lektüre scheint ihnen
Freude zu bereiten. Dabei geht natürlich nicht verloren, daß es sich um einen
philosophischen Text handelt, bei dem Voltaire die leibnizsche Theodizee ins Lächerliche
zieht.
Der Augenblick ist gekommen, näher auf die sprachlichen
Mittel einzugehen, die zum Ausdruck von Ironie benutzt werden. Es wird folgendes, eigens
zu diesem Zweck angefertigte Arbeitsblatt ausgeteilt:(7)
Quelques procédés stylistiques pour marquer l'humour
(la distance)
- L'euphémisme:
"Elle a quelques rondeurs" = Elle est grosse.
- L'ironie:
"Tu as l'air en forme aujourd'hui" = Tu es complètement inerte.
- Ia parodie:
Imiter quelqu'un en le ridiculisant.
- La satire:
Ecrit qui s'attaque à qc. en s'en moquant.
- L'antiphrase:
"Ce ne sont pas les scrupules qui l'étouffent" = Il n'a pas de scrupules.
- L'hyperbole:
"Ce type est un génie!"
- L'allusion:
Evoquer qn. ou qc. sans le nommer expressément.
- La métaphore:
"Le roi des animaux" = Le lion.
- L'antithèse:
"La critique est aisée, mais l'art est difficile"
- L'énumération:
"prêché, fessé, absous et béni" (Candide)
- L'enchérissement
"Elle estjolie ... non, elle est belle ... que dis-je, elle est sublime!"
- La périphrase:
"Celui qui règne dans cette contrée"
- L'oxymore:
"Un bel autodafé" (Candide)
- Le contraste:
"Un petit pas pour un homme, un grand pas pour l'humanité"
Als Hausaufgabe wird die Lektüre des dritten Kapitels
aufgegeben. Es sollen die Stellen notiert werden, die kommentierwürdig erscheinen,
insbesondere in bezug auf die Verwendung der Ironie.
Am Anfang der folgenden Stunde wird noch einmal versucht,
die Wirkung der Ironie und vor allem der Andeutung als stilistisches Mittel hervorzuheben.
Dazu verwendet der Lehrer ein konkretes Beispiel, indem er bewußt einige Scherze
einflicht, die nur einige Schüler verstehen können, weil sie mit ihm eine Woche vorher
eine Reise nach Frankreich durchgeführt haben. Die anderen blicken verduzt, können das
Gelächter gar nicht begreifen. Auf diese Weise wird allen klar, daß Andeutungen und
ironische Bemerkungen nur für Eingeweihte oder besonders "Hellhörige"
verständlich sind. Bei ihnen entsteht ein Zugehörigkeitsgefühl. möglicherweise sogar
eine Form von Elitebewußtsein, das die anderen ausschließt. In einer absolutistischen
Gesellschaft wie der des 18. Jahrhunderts hat ein solcher Doppeldiskurs eine
Schutzfunktion und kann auch als Waffe dienen. Er wird bald auch zum Genuß, ja zu einer
Kunst.
Um noch einmal den Geist des 18. Jahrhunderts zu
exemplifizieren, werden einige erotische Stiche aus dieser Zeit gezeigt.(8) Die Stiche sind harmlos für den unvorbereiteten Leser, der
Eingeweihte aber erkennt eine Fülle sexueller Anspielungen.
Daß der Doppeldiskurs vor allem auf dem Feld der
Sexualität, also in einem Tabubereich, Anwendung findet, leuchtet den Schülern ein. Sie
reagieren insgesamt sehr interessiert und begreifen, was unter "doppeltem
Diskurs" zu verstehen ist.
Im Anschluß wird vom Lehrer der Anfang des Kapitels 3 aus
Candide sehr detailliert interpretiert, d.h. mit Hinweis auf alle Wortspiele und
ironischen Einlagen.
Diese "Demonstration" soll die Schüler an eine
genaue Analyse gewöhnen und ihnen zeigen, daß diese scheinbar spröde Lektüre zu einem
Vergnügen werden kann, wenn man nur Voltaires vielfältige Andeutungen - natürlich nicht
nur sexueller Natur - begreift. Ab diesem Zeitpunkt ist der Lehrer nicht mehr gezwungen,
Doppeldeutigkeiten hervorzuheben. Die Schüler suchen sie von selbst und erkennen sie auch
sofort.
Durch Ironisierung, was nicht Ablehnung der Realität
sondern kontrollierte Annahme bedeutet, wird das zunächst beunruhigende Phänomen der
Sexualität gefügig gemacht.
Nur: Wenn das "Böse" nicht primär in der
Geschlechtlichkeit zu suchen ist, wo ist das "Böse" dann?
3. Das "Böse" in der Welt
Sinnfragen, insbesondere der Sinn menschlichen Leidens,
beschäftigen die Schüler sehr. Sie empört die Gleichgültigkeit und der Egoismus, die
Lüge und der Machtmißbrauch und daß Menschen anderen Leid zufügen. In einer Zeit der
Auflösung von tradierten Wertsystemen stoßen sie mit ihren Fragen bei Erwachsenen meist
auf Ratlosigkeit.
3.1 Die Suche nach dem Sinn im 20. Jahrhundert
Bei der Behandlung des 17. Jahrhunderts wurden die
Schüler bereits mit der Despotie als einer Form des "Bösen" konfrontiert. In
dem Maße aber, wie die Gesellschaft sich in den folgenden Jahrhunderten ausdifferenziert,
vervielfältigen sich die Ausprägungen des "Bösen".
Zum 20. Jahrhundert werden im Rahmen des
"geistesgeschichtlichen Durchziehers" folgende, von den Schülern erstellte
Lückentexte ausgeteilt:(9)
Le XXe siècle
(...)
La crise de l'humanisme et l'existentialisme
Le XXe siècle est marqué par une série
ininterrompue de.......: guerres, révolutions, régimes............. La conscience des
hommes en est profondément........................ Elle subit un autre choc par les
immenses..................dans tous les domaines: l'image que l'homme se fait de
l'........devient de plus en plus .............. A la confiance totale aux ....... intellectuelles et morales se substituent peu à peu le doute,
parfois la révolte et le refus. Ce qui caractérise la littérature du XXe
siècle, c'est l'effort de retrouver le ........; au fond de chaque oeuvre littéraire de
cette époque il y a l'anxiété, l'..................métaphysique de l'homme dans
un monde sans ..........
Vocabulaire
(Dieu - univers - crises - valeurs - sens de la vie -
totali-taires - bouleversée - compliqué - découvertes - angoisse)
3.2 La peste
Wie bei den Existentialisten insgesamt wird auch bei Camus
die Sinnfrage gestellt. In einer Welt ohne Gott verliert die Tugend ihren Zweck. Woher
nimmt der Mensch dennoch die Kraft, Leiden zu ertragen und gegen Unterdrückung und
Ungerechtigkeit zu kämpfen? In La peste
zeigt Camus, wie Menschen auf den massiven Einbruch des "Bösen" je nach
Biographie, Temperament und Charakterstärke reagieren.
3.2.1 Der "Einstieg" in La peste
Damit die Perspektive der Schüler zum Vorschein kommt,
wird die bereits im Zusammenhang mit der Behandlung des Absolutismus gestellte Frage, wie
sie sich selbst in Situationen der Unterdrückung verhalten, erneut aufgegriffen. Da seit
der Besprechung des 17. Jahrhunderts ein Jahr vergangen ist, wird sich sicherlich eine
Differenzierung gegenüber den damals gelieferten Antworten ergeben:
Ton comportement face à l'oppression
Comment te comportes-tu face à l'oppression? Pense à une
situation concrète, par exemple en classe face à certains professeurs.
.....................................................................................................................................................
.....................................................................................................................................................
(Discutes-en avec ton voisin)
Die Antworten der Schüler lauten:
- J'essaie de lutter toute seule contre l'oppresseur.
- J'essaie de composer avec l'oppresseur, parce que je sais
que je ne changerai rien. J'essaie alors de tirer le maximum de profit de cette situation.
- J'essaie d'oublier la situation dans laquelle je suis en
pensant à autre chose ou en rêvant.
- J'essaie de trouver des alliés pour lutter contre celui
qui m'opprime.
Zufällig decken diese Äußerungen alle idealtypischen
Haltungen gegenüber Unterdrückung ab, nämlich die individuelle Revolte, den
Opportunismus, den Eskapismus und den solidarisch geführten Kampf.
Die Schüler werden nun auf den Umstand aufmerksam
gemacht, daß die von ihnen genannten Haltungen in La Peste wiederzufinden sind,
und daß es für sie interessant sein dürfte, die Entwicklung der Figur, die jeweils ihre
eigene Position vertritt, im Laufe des Romans zu verfolgen.
3.2.2 Der "Ausstieg" aus La peste
Bei der Lektüre des Romans wurden die Schüler mit
vielfältigen Formen des "Bösen" in der Welt konfrontiert. Sie werden nun
gebeten, die pestes zu nennen, die sie persönlich besonders belasten. Hier soll
also eine Ausdifferenzierung des Begriffs "Böse" vorgenommen werden. Ferner
läßt sich nach der Lektüre des Romans noch einmal die Frage aufwerfen, welche Haltungen
die Schüler angesichts der vielfältigen Erscheinungen des "Bösen" einnehmen.
Falls sie solidarisches Handeln befürworten, sollen sie Strategien für den gemeinsamen
Kampf entwickeln:(10)
Nos "pestes"
Pour Rieux, la peste, c'est la maladie, la souffrance, la violence faite
à l'homme.
Pour Tarrou, la peste, c'est la condamnation à mort, l'oppression, la violence
faite à l'homme, mais aussi commise par l'homme au nom de la société.
Pour Rambert, la peste, c'est la séparation, la perte de l'amour
et du bonheur.
Pour les Oranais, la peste, c'est l'exil, la douleur, la mort, la privation
du passé et de l'avenir.
Et pour toi, la peste, qu'est-ce que c'est?
(Pense à des phénomènes qui excitent de façon
répétée ton indignation et ton courroux!)
.....................................................................................................................................................
.....................................................................................................................................................
Quelles stratégies mets-tu en oeuvre pour te protéger
de ces maux? Quelles stratégies mets-tu en oeuvre pour les combattre?
.....................................................................................................................................................
.....................................................................................................................................................
Forme un groupe avec les élèves qui ont noté les mêmes
"pestes" et essaie d'élaborer avec eux une stratégie commune de lutte contre
ces maux.
Von den Schülern werden folgende pestes genannt:
- La pression morale et l'intolérance que je rencontre dans
mon entourage (famille, école, village).
- La soif de pouvoir de certains, notamment en politique. Les
moyens que certains emploient pour rester au pouvoir.
- L'indifférence et l'égoïsme face à ce qui se passe dans
le monde, par exemple face à la pollution.
Interessant ist hier festzustellen, daß die
Schülerantworten die Aspekte thematisieren, die den Ausgangspunkt für den vorliegenden
Aufsatz lieferten, also die Frage des Machtmißbrauchs und des von der Erwachsenenwelt
ausgehenden Anpassungsdrucks.
Bei den Schilderungen der Strategien, die die Schüler
angesichts des "Bösen" erstellen, fällt auf: vor der Behandlung von La peste
hatten die meisten für sich selbst einzelkämpferische, eskapistische oder
opportunistische Wege gewählt; nach der Lektüre hat sich zwar kein radikaler Wandel
vollzogen, es werden aber differenziertere Pläne entwickelt und vor allem solche, die
eine Solidarisierung mit anderen als Komponente im Kampf gegen Ungerechtigkeit und
Unterdrückung einschließen. Anscheinend haben die Schüler Camus Botschaft einer auf dem
Humanismus gründenden Solidarität verinnerlicht ...
Schlußwort
An Hand dreier Beispiele aus der Praxis wurde gezeigt,
daß der Ausgangspunkt des Literaturunterrichts der Schüler selbst sein sollte, mit den
Fragen, die ihn existentiell berühren. Mit Blick auf die Gegner der Kanonbildung in der
Literatur möchte der Verfasser erwähnen, daß ihm just die Werke besonders ergiebig
erscheinen, die seit eh und je im Französischunterricht der Oberstufe gelesen werden,
also "kanonisiert" sind. Könnte es daran liegen, daß sie deutlicher als andere
die Grundfragen menschlicher Lebensbewältigung in den Vordergrund rücken?
Literaturverzeichnis
Ardelt, E. / Roth, E.:
"Entwicklungspsychologische Aspekte des Jugendalters." Reimann, H. / Reimann, H.
(Hrsg.). 1987: 140-168.
Ewert, 0.: EntwicklungspsychologiedesJugendalters.
Stuttgart: Kohlhammer 1983.
Hertel, W.: Lu Civilisation
Française. C2. Frankfur/M.: Hirschgraben 1977.
Lagarde, A. / Michard, L.: Les grands
Auteurs français du programme. Antologie
et histoire littéraire. Paris: Bordas 1985.
Le Hir-Egle, M . : Stundenblätter Albert
Camus "La peste ". Stuttgart: Klett
1986.
Oerter, R.: "Jugendalter."
Oerter / Monfada (Hrsg.). 1987: 265-338.
Oerter R. / Montada, L.: Entwicklungspsychologie.
München / Weinheim: Psychologie Verl. Union 1987.
Reimann, H. / Reimann, H. (Hrsg.): Die Jugend.
Einführung in die interdisziplinäre
Juventologie. Opladen: Westdeutscher Verlag 1987.
Wagner, P.: Lust und Liebe im Rokoko.
Nördingen: 1986.
Walter, H.: Voltaire. Candide ou L'Optimisme.
Lehrerheft. Frankfurt/M.: Hirschgraben
1980.
(1)
Siehe u.a. Oerter (1987: 275 ff.), Ewert (1983), Ardelt / Roth (1987: 144 ff. u.
156 ff.).
(zurück)
(2)
Dazu Ardelt / Roth (1987: 159): "Hat er aber in dieser Übergangszeit erst
einmal Regeln und Normen aufgestellt, Werte akzeptiert, hält er sich ohne Außendruck und
häufig sehr starr daran und versucht ihnen möglichst treu zu bleiben. Bisweilen mißt er
auch die von ihm gewählten Vorbilder oder sogar seine ganze Umgebung an diesem Maßstab.
Daher wird auch die schroffe, bisweilen stark emotional gefärbte Ablehnung verständlich,
die einen Erwachsenen trifft, wenn er dem Anspruch des Jugendlichen nicht gerecht wird,
die Normen verletzt oder auch nur Kompromisse schließt."
(zurück)
(3)
Die bereits genannten Entwicklungsaufgaben fügen sich in einen übergreifenden
Prozeß der Selbstfindung ein, der von intensiver Selbstreflexion begleitet wird. Insofern
läßt sich die Selbstreflexion als die wichtigste Entwicklungsaktivität auf der uns
interessierenden Altersstufe bezeichnen (siehe dazu ebenfalls Ardelt/Roth 1987: 156 ff,
Ewert 1983: 115 ff., Oerter 1987: 289 ff.).
(zurück)
(4)
Für die Kollegen, die das methodische Konzept selbst im Unterricht erproben
wollen, verschickt der Verfasser detaillierte Unterlagen in Form von Didaktischen Briefen.
Diese Briefe enthalten auch methodische Anregungen zum Anfangsunterricht und zur
Mittelstufe.
(zurück)
(5)
Als Vorlage wurde den betreffenden Schülern ausgeteilt: Lagarde / Michard (1985:
89).
(zurück)
(6)
Als Vorlage bekamen die betreffenden Schüler: Lagarde / Michard (1985: 9).
(zurück)
(7)
Das Blatt wurde verfaßt in Anlehnung an: Walter (1980).
(zurück)
(8)
Die Stiche sind entnommen aus: Wagner (1986: 161). Wagners Buch liefert einen
guten Überblick über die erotischen Kupferstiche des 18. Jahrhunderts und bietet dazu
sehr hilfreiche Interpretationen.
(zurück)
(9)
Dazu wurde den Schülern folgende Vorlage geliefert: Hertel (1977: 247 f.).
(zurück)
(10)
Auf dem Arbeitsblatt werden am Anfang noch einmal die Übel aufgelistet, die für
die einzelnen Romangestalten durch die Pest symbolisiert werden. Dies erfolgt in Anlehnung
an: le Hir-Egle (1986: 49).
(zurück)
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