LdL im Deutschunterricht an einer Berufsschule für Kfz-Mechaniker

Erfahrungsbericht zu Ansätzen von "Lernen durch Lehren" (LdL) im Unterricht an einer Münchner Berufsschule (20.05.98).

Die sog. harten Daten zum Schul- und Schülerprofil

 

Schule: Schüler:
Berufsschule als der theoretische Teil des Dualen Systems
zur Ausbildung von Lehrlingen des Handwerks
Schülerzahl: ca. 1300, 97%m, 3%w
Blockbeschulung, d.h im Turnus eine Woche Unterricht
gefolgt von zwei Wochen Ausbildung i. Betrieb
Alter: 16 - 21Jahre
10. Jgst., 1. Lehrjahr im Ausbildungs-
beruf "Kfz-Mechaniker"
(Lehrzeit: 3,5 J.)
Einzugsgebiet: Großstadt München 20-60% Ausländeranteil in den Klassen
Klassenstärke: durchschnittl. 28 SchülerInnen Formale Abschlüsse:
SoS, HS, HS10, z.T. RS, RS10, GY

 

Unterrichtsumfang i. Fach Deutsch (gemäß Lehrplan i. BY):
1. Lj.
: 4 Unt.std.: 2x2, 2. Lj.: 3 Unt.std.: 1x2, 1x1 Std., 3. L j.: 3 Unt.std.: 1x 2 Std., 1x1 Std.,4.
L j.
: kein D-Unterricht

Nunmehr, in der 11.Blochwoche - auf eine Schulwoche folgen zwei Arbeitswochen im Betrieb - oder, in Unterrichtsstunden gemessen, nach etwa acht mal zwei Doppelstunden Deutsch (Schwund durch Feiertage etc.) erlaubt die Spezifik der Klassensituation auch deutlichere Veränderungen im Rollenverständnis aller Beteiligten, ohne als aufgesetzt zu wirken. Vorangegangen sind dieser Phase viele Klein- und Kleinstschritte mit denen "hoheitliche" Dienste vom Lehrer in die Schülerverantwortung gegeben wurden, z.B.

  • das Kopieren fehlender Skripten selbst zu erledigen,
  • Klassensätze mit dem Kopierer im Lehrerzimmer zu vervielfältigen,
  • Recherchieren in der Lehrerbibliothek,
  • schrittweises, zum unbegleiteten Nutzen führendes Handhaben der Netzdienste (SaN, WinShuttle),
  • das Delegieren des Abfassens der Klassenbucheinträge bzgl. Stundenthema an die Schüler,
  • Fixieren von Verspätungen und Fehlzeiten anstelle des Lehrers.

Anm.: Übrigens nicht, ohne mit Argusaugen von Kollegen registriert zu werden ("wg. Schülerhandschrift im Klassentagebuch").

Verbale Daten

"he, bist du schwul!" so reagiert der türkische Azubi Mehmet (Name geändert) auf seinen türkischen Banknachbarn, um ihm mitzuteilen,"er habe doch während des ganzen Unterrichts den Stöpsel des Walkmans im Ohr gehabt!" Eigentlich meint er "ich ärgere mich darüber, daß du meinem Tun keine besondere Beachtung geschenkt hast!"
Der "ganze Unterricht" besteht genau genommen aus seiner 10-Minuten-Moderation, die er freiwillig übernommen hat, um den - mit viel Interesse verbundenen - Stundenbeginn "Aktuelles", anstelle des Lehrers zu übernehmen.
Ich berichte hier aus einer Deutschstunde, wie sie sich im Nachmittagsunterricht (13:00Uhr) begeben hat.
Mit wenigen Interventionen meinerseits managed er die drei bis vier Wortmeldungen gekonnt. Sehr wohl registriert er die Blicke der anderen Schüler, die immer wieder suchend zu mir wandern, um dann deutlich zu machen, "he, ihr da, ich bin jetzt Euer Chef!"
Alfons. meldet sich und sagt "es gibt ne´neue Pille, ...für Männer!"
"Wer weiß noch was?", fragt Mehmet in die Klasse.
"Indien hat eine Atombombe gezündet!"
"Im Ossiland hat ein 16jähriger ein Mädchen vergewaltigt!"
"Da kann man besser fi...en", entfährt es einem Mitschüler...", bezogen auf die Meldung zur Potenzpille "VIAGRA".

Mit dem letzten Ausspruch ist Mehmet sichtlich überfordert, als sichtbare Reaktion bleibt ihm da nur ein lautes Lachen. An dieser Stelle sehe ich mich aufgefordert zu intervenieren. Auf den Hinweis, "er könne seine Meinung sicher auch weniger kraß formulieren", bleibt er verlegen stumm!
So, oder ähnlich läßt sich in einer Momentaufnahme die Unterrichts-Konstellation im Feld Berufsschule beschreiben. Wer lernen durch Lehren propagiert, muß auf diese Art Schulrealität gefaßt sein. Ging es doch offensichtlich darum, sich mit dieser Bemerkung "unter Männern" Achtung zu verschaffen, einerseits. Andererseits ........
Mehr und mehr Elemente lehrerzentrierten Unterrichts an die Schüler delegieren, dies ist auch deshalb ein schwieriges Unterfangen, weil ich einen Großteil der Schüler (Azubis) dem Unsicherheitsfaktor "wechselnde Autoritäten" aussetze. Wie sagte der Schüler in seiner neuen Rolle, "he, ich bin jetzt der Chef!" und zwar im Feld Schule, wo er üblicherweise "ohnmächtig" ist.
Eine ähnliche Situation findet er im betrieblichen Umfeld vor. Die Rolle des Chefs ist dort ein zentraler Gesichtspunkt. Er ist es, der anschafft, er kann jemanden ´rausschmeißen, er hat - unreflektiert - meist das Recht auf seiner Seite!
Gespräche mit den Schülern des ersten Lehrjahres zu der Frage "was ändert sich für dich hauptsächlich im zweiten Lehrjahr" spiegeln diese Eindrücke wider und offenbaren tendenziell ähnlichen Einstellungen, "dann kann ich den Neuen im ersten Lehrjahr anschaffen, die Werkstatt zu kehren, aufzuräumen oder die Brotzeit zu holen!"

Was wurde in der obigen Sequenz "gelernt"?
Die Lehrhandlungen im eingangs geschilderten Beispiel beinhalten gleichsam den Explosivstoff des schülerinitiierten Lernens (in der Berufschule), sie führen weiterhin dazu, das Lerngeschehen differenzierter zu betrachten, z.B. auch aus der Perspektive lehrerseitigen Lernens. Letztere soll aber hier nicht weiter vertieft werden.
Es sind somit nicht die hehren Lernziele, etwa von der Qualität wie "Schüler sollen spüren, wie der Wechsel der Darstellungsformen oder des Sozialarrangements sich auswirkt", sondern die für das Lernen in der Berufsschule zuallererst bedeutsamen engen Verbindungen aus "emotional-motivationaler und kognitiver Komponenten", die die "ichnahen, für das Selbstbild zentralen Gedanken und Emotionen" einschließen (vgl.: Selbstgesteuertes Lernen, Friedrich, H.F. & Mandl, H.(1997) .

 

-Schülerseitiges Lernen (i.d. BS) - Lehrerseitiges Lernen (i.d. BS)
- persönl. Umgang mit "Macht"
- als Leitender (Schüler!) Ziele setzen
- Erkennen von Konfliktsituationen
- Strategien zu deren Bewältigung
- Rollenbewußtsein
- Rollenwechsel
- Einsicht in andere Meinungen
- Konkretisierungen eigener Anschauungen
- Rollenwechsel "ehrlich" vorleben
- qualifizierte Unruhe akzeptieren
- Lernpotential von Gruppenzugehörig-
keiten als positiv erachten
- "Demokratie" wie Schüler sie verstehen akzeptieren
- Nichtbeteiligung tolerieren
- ...


... wird fortgesetzt!