BERICHT ÜBER MEINE ARBEIT IM LK-12-FRANZÖSISCH (21.07.95)

Vorüberlegungen

Das Ziel, das ich im Unterricht grundsätzlich verfolge, ist, meine Schüler "lebenskompetent" zu machen. Durch LdL bauen sie sehr früh eine selbstbewuße, "explorative" Haltung auf, die sie dazu befähigt, neue Felder anzugehen und zu erobern. Die Schüler trauen sich etwas zu! In der 11.Klasse beispielsweise hatten sie kleine didaktische Einheiten erstellt (über Chansons, Filme, Interviews mit Franzosen) und im Rahmen einer Fortbildung für Französischlehrer eingesetzt. Wie wurden diese Fähigkeiten im LK-12 ausgebaut?

1. Die von mir ausgewählten Inhalte im LK-12

Seitdem ich LKs durchführe, hat sich bei mir die Überzeugung gefestigt, daß "Durchzieher" durch die Geistesgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart eine besonders stabile Wissensbasis für die Schüler bilden. Es geht dabei weniger um Details, sondern es soll Strukturwissen vermittelt werden. Die Frage, die sich stellt, ist also: welche Inhalte besitzen in besonderem Maße Erklärungskraft für das aktuelle und künftige Leben der Schüler? Es hat sich gezeigt, daß Grunderkenntnisse über den Menschen selbst, wie beispielsweise die Hierarchie der Grundbedürfnisse nach Maslow, oder die von mir zusammengestellten antinomischen Kategorien (Zwang/Freiheit, Integration/Differen- zierung, etc.) das Begreifen vieler Lebenserscheinungen erleichtert. Im Unterricht des LK-Französisch werden diese Grunderkenntnisse zum Verständnis der französischen Geschichte und Literatur immer wieder eingesetzt. In diesem Zusammenhang ist aus meiner Sicht besonders wichtig, daß eine Reflexion über Werte eingeleitet wird. Diese zieht sich als roter Faden durch: Was spricht für, was gegen das hedonistische Prinzip, das im 18.Jh. in Frankreich besondere Bedeutung bekommt? Warum sollte man den "Pfad der Tugend" wählen, wenn doch das Laster oft ungleich attraktiver erscheint? Diese historische Reflexion wird auch stets und gleichzeitig auf die aktuelle Lage gerichtet, die ja genug Anlaß bietet: Warum sollte man sich als Politiker oder Manager nicht korrumpieren lassen, wenn ohnehin kaum mit Konsequenzen zu rechnen ist? Warum sollte man im Fernsehen nicht Blut, Leichen und weinende Menschen zeigen, wenn das doch die Einschaltquoten erhöht? usw.

2. Auftritte von Schülern auf Fortbildungsveranstaltungen

Wenn im Unterricht interessante, erkenntnisfördernde Inhalte er- arbeitet werden, so liegt es nahe, diese Inhalte einem breiteren Fachpublikum vorzustellen. Dies nehme ich zum Anlaß, meinen Schülern in Form von Fortbildungsveranstaltungen Felder zu vermitteln, auf dem sie sicheres Auftreten üben können. Da sie gut vorbereitet und routiniert sind, da sie das Gefühl haben, Interessantes vorzutragen, werden ihre Vorführungen meist zum Erfolg, was ihr Selbstbewußtsein stärkt. Ein weiterer Effekt ist, daß sie sich noch intensiver mit dem Stoff vertraut machen müssen. Schließlich lernen sie, sich in Diskussionen mit alters- und wissensmäßig Überlegenen zu behaupten. Die Schüler werden also "lebenstüchtiger".

Ihr jüngster Auftritt fand vor zwei Wochen statt: es hielten einige Schülerinnen einen Vortrag über französische Literaturgeschichte vor Studenten und Professoren der Uni Eichstätt. In der kontroversen Diskussion (Tenor: "Liegt in dieser Art von Durchzieher nicht die Gefahr der Manipulation?") konnten die Schülerinnen sich gut behaupten. Im kommenden September werden wir nach Brüssel zum Deutschen Gymnasium reisen, wo der ganze LK-13 zu diversen Fächern, Themen und Jahrgangsstufen Veranstaltungen durchführen wird. Mit diesen Beispielen möchte ich aufzeigen, daß Haltungen im Unterricht aufgebaut werden können, die "normale" Schüler befähigen, unbekannte, teilweise bedrohliche Felder anzugehen und zu erobern!

3. Facharbeiten und Parisreise

In diesem Sinne habe ich auch die Vergabe der Facharbeiten und eine damit verbundene Parisreise geplant und durchgeführt.

Die Facharbeiten:

Gegenwärtig spielt sich in Frankreich nicht nur Bedenkliches ab (Affären, Atomversuche in Mururoa) sondern auch Erfreuliches: Paris hat mit den Grands Travaux (Louvre, Grande Arche, Museum d'Histoire Naturelle, La Villette, Bibliothèque de France, Rénovation de Versailles, Institut du Monde Arabe, etc.) Faszinierendes zu bieten; dies trifft auch für andere große französische Städte zu, wie z.B. Lyon. Entsprechend habe ich Facharbeitsthemen vorgeschlagen, die architektonische Projekte zum Gegenstand haben. Es sind diese (ich gebe hier die deutsche Übersetzung der Arbeitstitel an):

- Le Musée d'Orsay: vom Bahnhof zum Museum des 19.Jh. - La Tour Eiffel - Les jardins du château de Versailles - Le Louvre I (Antike) - Le Louvre II (Malerei des 19.Jh.) - Lyon: architektonische Projekte

- Le Centre Pompidou - Der Deutschunterricht in Frankreich - Jacques Livchine: ein zeitgenössischer Autor - Eichstätt-Torcy: 10 Jahre Austausch - Moderne französische Dichtung

Alle Themen habe ich mit der Auflage verbunden, daß vor Ort recherchiert und Kontakt mit Verantwortlichen aufgenommen wird. Von Anfang an soll vermieden werden, daß die Schüler die Facharbeiten aus Büchern zusammenschreiben. Als erstes müssen sie Spezialisten kontaktieren und interviewen; auf diese Weise bekommen sie Impulse, die sie zum Weiterforschen mehr anregen als dies über Bücher zu erreichen ist. Im Gegenzug habe ich angeboten, einen Aufenthalt in Paris in den Pfingstferien zu organisieren. In der Vorphase, also Anfang April fingen die Schüler an, Kontaktpersonen zu suchen, wobei ich ihnen behilflich war.

Der Aufenthalt in Paris (die Forschung)

Nach Paris kamen 10 Schülerinnen und zwei Studentinnen, die die Aufgabe hatten, die Schüler bei ihren Recherchen zu unterstützen. Als besonders förderlich für den Erfolg unseres Aufenthaltes hat sich erwiesen, daß wir ein sehr komfortables Jugendhotel gesucht hatten. Da die Schülerinnen den ganzen Tag in einer Stadt unterwegs waren, die wie viele Großstädte anstrengend ist (Armut, Unsicherheit in den Transportmitteln und sonstwo), war es wichtig, daß sie zumindest am Abend sich entspannen konnten. Das Jugendhotel bietet Viererzimmer mit Bad, WC. und Fernsehen, Frühstück und 1 Mahlzeit für 50,--DM pro Person und heißt: Résidence Internationale de Paris, 44 rue Louis Lumière 75020 Paris (métro Porte de Bagnolet).

Die zweite wichtige Voraussetzung für den Erfolg war, daß wir alle sofort eine "Carte Orange" kauften, die uns ermöglichte, in Paris überall mit der U-Bahn zu fahren. Auf diese Weise war jeder verkehrsmäßig unabhängig.

Wichtig war schließlich, daß ich getreu meines Prinzips KEIN DETAILLIERTES PROGRAMM geplant hatte. Einmal hatten die Schüler mit ihren Recherchen für die Facharbeiten einiges zu tun. Zum anderen wollte ich vor Ort die große Anziehungskraft der Stadt wirken lassen. Sehr schnell wurden Besichtigungswünsche deut- lich. So entwickelte sich eine Mischung von gemeinsamen Aktivitäten (z.B. gemeinsame Fahrt zum Sacré Coeur am Abend oder Aufführung in der Comédie française) und Kleingruppenaktivitäten (2 bis 3 Schüler). Jeden Tag fand nach dem Frühstück eine Besprechung statt, wo jeder seinen Plan für den Tag schilderte, und am Abend wurde über den Tag berichtet und über das weitere Programm nachgedacht. Ich selbst hatte stets ein Angebot parat für diejenigen, die am jeweiligen Tag gerade keinen Termin und kein Vorhaben hatten (da ich meinen Kleinbus dabei hatte, konnte ich kleine Fahrten zu Sehenswürdigkeiten außerhalb von Paris anbieten). Auf diese Weise hatten die Schüler völlige Freiheit, sowohl gemeinsame Unternehmungen als auch individuelle Erkundungen durchzuführen. Die einzelnen Recherchen enthielten durchaus abenteuerliche Züge. So sollte beispielsweise die Schülerin, die sich mit dem Thema "Deutschunterricht in Frankreich" befaßte, Gerald SCHLEMMINGER treffen, der im Kontaktnetz steht, in Paris Dozent an der Universität ist, und die Freundlichkeit hatte, ihr zu helfen. Da die Schülerin Herrn SCHLEMMINGER nicht kannte, schlug er vor: "Wir treffen uns vor dem `Hotel Dieu', ich werde den SPIEGEL in der Hand haben, bitte nehmen sie die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, damit wir uns gegenseitig erkennen können".

Die so gelegten Strukturen bewirkten, daß aufgrund der gemeinsamen (Integration) und individuellen (Differenzierung) Unternehmungen eine Art Besichtigungsfieber ausbrach. Die Schüler empfahlen sich gegenseitig Besichtigungsorte ("Du mußt unbedingt zum Musée Grévin gehen!") und benutzten den Parisaufenthalt zur intensiven Erkundung, so daß sie nach einer knappen Woche die Stadt im Griff hatten. Dies konnte nur gelingen, weil sie eine Aufgabe hatten (Facharbeit) und zugleich viel Freiheit. Die Aufgabe bewirkte, daß sie sich nicht als Touristen empfanden, und die Freiheit ermöglichte ihnen, ihre Energien ungehindert zum Besichtigen einzusetzen; die gemeinsamen Treffen und Unternehmungen hielten durch gegenseitiges Anstacheln die Erkundungslust wach. All das klingt banal und selbstverständlich. Ich hätte es wahrscheinlich auch nicht in dieser Ausführlichkeit beschrieben, wenn nicht Schüler und Studenten von Studienreisen berichten, in denen alles vorgeplant ist, und die Schüler nach einer Reihe von Pflichtbesichtigungen anfangen zu rebellieren. Es baut sich allmählich eine Front auf zwischen den Lehrern - die ja nur das Beste wollen - und den Schülern, die ja gerne viel sehen würden, wenn sie das nur selbstbestimmt machen dürften. Oft mündet diese gegenseitige Frustration in abendliche Trinkgelage, wo Schüler und Lehrer kurzfristig eine gemeisame Basis finden.

Die Schüler meines LKs jedenfalls waren für die Freiheit, über die sie in Paris verfügen konnten, sehr erfreut. Sie bestätigten, daß ihre Motivation, Paris so intensiv zu erkunden, eben aus der Mischung von Anregungen und der Freiheit, diesen Anregungen nachzugehen, entstanden war.

4. Selbstreflexion

Im Sinne der Wertebildung meine ich, daß Phasen der Selbstrefle- xion von seiten des Lehrers initiiert werden können. So lasse ich meine Schüler bereits ab der 11.Klasse ein "Forschungstagebuch" halten, in dem sie immer wieder über den Stand ihrer fachbezogenen Überlegungen berichten (vor allem im Zusammenhang mit der Vorbereitung von Stunden, die sie dann halten). Vor einigen Tagen habe ich als Hausaufgabe folgendes Thema angeboten (hier ins Deutsche übersetzt): "Ich: gestern, heute, morgen." Bewußt hatte ich auch andere Themen vorgeschlagen, um niemanden zu zwingen, dieses doch sehr persönliche Thema zu behandeln. Die Hälfte der Schüler entschieden sich für diese Frage.

Als Beispiel gebe ich Auszüge aus einem Aufsatz wieder, aus dem ersichtlich wird, welche große Rolle in der Oberstufe die Wertreflexion bei den Schülern spielt, und wie wichtig es ist, diesen Prozeß wahrzunehmen und zu unterstützen (der Text wurde ins Deutsche übersetzt):

Ich: gestern, heute, morgen (Schülerbeitrag - Auszüge)

Wenn ich dieses Thema lese ist das erste, was mir in den Sinn kommt, die Tatsache, daß im Laufe der Jahre, wie bei allen anderen Menschen, sich bei mir sehr viele Veränderungen abgespielt haben, nicht nur, was meine Persönlichkeit betrifft, sondern auch, meine Weltsicht, meine politische Haltung und meine Bedürfnisse. Das erste, was sich sehr stark verändert hat, ist meine Persönlichkeit: früher wollte ich mich nicht engagieren, in Vereinen oder in der Politik, das Wichtigste war für mich die Freizeit. Aber ich kann nicht sagen, daß ich diese freie Zeit sinnvoll benutzt habe, meistens habe ich Freunde getroffen und wir haben mehr oder minder verrückte Sachen gemacht. Damals lehnte ich es ab, die Verantwortung für irgendetwas zu übernehmen, ich dachte, es reichte, wenn ich für mich Verantwortung trug, aber weder für meine Freunde, noch für meine Familie. (...) Große Veränderungen haben sich auch im Hinblick auf meine politische Haltung und meine Einstellung gegenüber der Welt ergeben. Früher interessierte ich mich nicht für Politik und auch nicht für das, was sich im Ausland abspielte. Ich dachte wie Candide, daß alles "zum besten in der besten aller möglichen Welten" sei, ich war so naiv, daß ich dachte, daß alle Politiker nur arbeiten, um das Land vor allen möglichen Schäden zu bewahren, und daß diese Leute immer recht haben. (...) Wenn es irgendwo eine Krise gab, oder wenn ein Krieg tobte, so dachte ich, daß die Entfernung sehr groß sei und wir weiterhin im Wohlstand leben würden. Nun bin ich erwachsener geworden (es wäre schlecht für mich, wenn es nicht der Fall wäre!) und ich bin bereit, Verantwortung zu übernehmen(...)

5. Schlußbemerkungen

In diesem Papier habe ich die Aspekte festgehalten, die mir in diesem Schuljahr besonders wichtig erschienen. Im Unterricht möchte ich also bewirken, daß die Schüler aufgrund eines stabilen Strukturwissens - dazu rechne ich auch positive, auf die Gemeinschaft ausgerichtete Wertvorstellungen - selbstbewußt die Welt explorativ angehen. Ganz in diesem Sinne fiel mir am letzten Schultag ein, wir könnten doch einen Brief an Chirac schreiben, um unsere Enttäuschung über seine Entscheidung, Atomversuche wiederaufzunehmen, kundzutun. In weniger als 20 Minuten hatte jeder Schüler einen Brief geschrieben und ich verschickte diese Post am nächste Tag. Hier ein Beispiel:

Anschrift der Schülerin

X.........., le 12.07.95

Monsieur Jacques Chirac Président de la République française

Monsieur le Président,

je suis une élève allemande de terminale qui a choisi d'apprendre le français comme matière principale.

Avec notre professeur ma classe a fait plusieurs voyages en France, et moi, comme les autres, nous adorons ce pays à cause de son histoire intéressante, de sa culture vivante et de son esprit dynamique. Mais ce qui se passe en ce moment nous a beaucoup déçus. Nous nous sentons un peu comme des ambassadeurs des rapports franco-allemands, puisque nous nous occupons intensivement de votre pays. Malheureusement il faut dire que compte tenu des essais atomiques français il devient très très difficile de s'identifier positivement à la France.

Dans l'espoir de voir la situation s'améliorer et de vous voir renoncer aux essais atomiques, je vous prie de bien vouloir accepter l'expression de mes sentiments les plus distingués.

XY