Reflexionen über Fragen der Forschung
(Jean-Pol Martin 5.10.96)


eMail und Homepages werden den Austausch in Denkgemeinschaften rasant beschleunigen. Das wird die traditionelle Wissenschaft revolutionieren.

1. Geschwindigkeit des wissenschaftlichen Austausches

Wenn ein Geisteswissenschaftler wahrgenommen werden will, muß er publizieren und auf Kongressen erscheinen. Das kostet viel Zeit. Bis ein Aufsatz veröffentlicht wird, dauert es zwischen dem Verfassen und der Publikation oft ein Jahr und mehr. Wenn die darin enthaltenen Ideen wirklich gut und wichtig sind, dann ist die Langsamkeit fatal für die Wissenschaft.

Warum?

Auf diese Frage möchte ich jetzt etwas ausführlicher eingehen. Dazu werde ich die Gehirnmetapher benutzen und stütze mich auf Hans Stohner (Kognitive Systeme - Eine Einführung in die Kognitionswissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995, S.50). Ich zitiere:

"Kognitive Struktur: Neuronale Netze
In der durch die Verbindung neuronaler Einheiten entstehenden Netzwerken, die auch neuronale Netze genannt werden, wird allen Einheiten eine gleichberechtigte Rolle zugeschrieben. Durch diese enge Kooperation zwischen den Einheiten wird ein ganz anderer Aufbau als in einem herkömmlichen Computer mit einer Von-Neumann-Architektur realisiert. Die Verarbeitungskontrolle geht nicht von einer zentralen Steuereinheit aus, sondern ist dezentral auf alle an der Verarbeitung beteiligten Einheiten verteilt. Dadurch wird eine zeitlich parallele Verarbeitung der Information ermöglicht."

Bezogen auf die Wissenschaft als System, die man ja mit einem Makrohirn vergleichen könnte, wo jeder einzelne Forscher als Neuron und jede Forschereinheit als Neuronenknoten wirkt, versteht man sofort, warum die Geschwindigkeit des Austausches eine wichtige Rolle spielt: je schneller der Austausch, desto schneller produziert das "Gehirn Wissenschaft" Problemlösungen. Während im tatsächlichen Gehirn der Austausch zwischen den Zellen rasant ist (sonst würde der Organismus bald Opfer seiner Umwelt werden), ist das "Gehirn Wissenschaft" aufgrund des zeitraubenden Publikationsverfahrens extrem langsam und uneffektiv. Deshalb sind inzwischen Wissenschaftler bestrebt auch bei Publikationen immer mehr das Internet zu benutzen. Das reicht aber nicht: im Gehirn wird der Austausch gelenkt und organisiert. Eine wichtige Instanz dazu ist der Frontalcortex. Eine solche Instanz gibt es in der Wissenschaft (noch) nicht.

Die Vorstellung, die ich für meine Forschung entwickele, ist folgende:

Ich bin dabei eine Struktur zu schaffen, bei der Kommunikationsprozesse zwischen Menschen, die an einem gemeinsamen und bedeutsamen Thema langfristig interessiert sind, gefördert und beschleunigt werden. Diese Gruppe vergleiche ich mit einem Makrohirn. Die Aufgabe des Kleinhirns im Organismus (Aufrechterhaltung des vegetativen Systems) wird im LdL-Projekt von den Systemberatern übernommen, die für das Funktionieren der Organisation und der Kommunikation sorgen. Die Aufgabe des Mittelhirns als Sitz des Gedächtnisses wird im LdL-Projekt von der Homepage als Datenbank erfüllt. Schließlich wird die Aufgabe, die der Frontalcortex im Organismus erfüllt (Zielsetzungen, Koordination von Handlungen und Planung), im LdL-Projekt von allen Teilnehmern übernommen, vorwiegend aber von den Mitgliedern der Kerngruppe.

2. Reflexionen über meinen eigenen Forschungsgegenstand

Der Gegenstand meiner Bemühungen ist natürlich nicht die Wissenschaft als ganzes sondern das "LdL"-Kontaktnetz. Hier handelt es sich um eine Struktur, die sich einem bestimmten Thema widmet, nämlich der Verbesserung von Unterricht durch verstärkte Anwendung von schüleraktivierenden Techniken. Es hat sich gezeigt, daß die Delegierung von Lehrfunktionen an Schüler eine Fülle von Forderungen der modernen Didaktik schlagartig einlöst, ohne daß Schüler, Lehrer oder Verwaltung dramatische Veränderungen vornehmen müßten.

Da das Thema für Lehrer und Schüler von anhaltendem Interesse ist, und da es viele Menschen betrifft, werden viele Menschen thematisch an das Kontaktnetz langfristig gebunden. Für meine Forschung, also für die Qualität des untersuchten Kontaktnetzes als "Gehirn" ist das langfristige Interesse von vielen vorteilhaft, denn die einzelnen "Neuronen" bleiben im System.

Vor Einführung von eMails, Internet und Homepage bestand das Problem darin, daß die Informationen (ein Kontaktbrief alle zwei Monate) zwar schneller als im sonstigen Wissenschaftsbetrieb flossen, aber daß der Austausch zentralistisch über Eichstätt verlief: ich bekam Briefe, Erfahrungsberichte und Anfragen, die ich dann weiterleitete. Das Kontaktnetz war also recht langsam und keineswegs als neuronales Netz strukturiert. Mit der Einrichtung der Homepage verändert sich alles: auf einmal kann jeder sofort mit jedem Kontakt aufnehmen. Es handelt sich jetzt um ein NEURONALES NETZ.

Bei diesem Prozeß hat sich die "Machtstruktur" im Netz etwas verschoben. Besonders machtvoll sind diejenigen Teilnehmer geworden, die eine genaue Kenntnis des Systems besitzen, also MANFRED LIRSCH und ich. Andererseits wird durch die Offenlegung unserer Überlegungen gewährleistet, daß diese Macht sofort aufgebrochen wird, denn jeder Teilnehmer kann lesen, was wir mit dem System vorhaben und er kann selbst darauf Einfluß nehmen (z.B. durch Einträge in die Homepage, die von allen gelesen werden).

Langfristig wird durch die Einführung des Modells NEURONALES NETZ ein Schritt in Richtung Demokratie gegangen.

EXKURS: Transparenz der Forscherleistungen

Ich kann mir vorstellen, daß in Zukunft bei Bewerbungen auf wissenschaftliche Stellen nicht mehr eine Publikationsliste verlangt wird, sondern eine Homepage. Das hat den Vorteil, daß man wirklich Einblick in das langfristige Schaffen eines Wissenschaftlers gewinnt, in die Kontinuität und Kohärenz seiner Forschung, in die Tiefe der Wirkung und der Rezeption. Die Qualität einer Forschung wird weniger an der Zahl der Publikationen gemessen, sondern an der Tiefe und an der Vernetzung des Werkes, was am besten in einer Homepage zu besichtigen ist. Der Vorteil ist, daß sie in Ruhe und gründlich an einem Thema werden arbeiten können.
Ich selbst gebe bei Bewerbungen auf Lehrstühle ab jetzt meine Homepageadresse an. In eventuellen Artikeln - die ich aus den oben genannten Gründen nur ungern schreibe, weil sie mich vom Forschen abhalten - werde ich ebenfalls die Homepage angeben. Wenn das keine Innovation ist!


Fragen und Kommentare: jpm@ldl.de