Reflexionen über meinen Unterricht in der 11. Klasse

Eintrag 15


Jean-Pol Martin
11.06.1998

Frankreichreise: die Machtübernahme

Nun bin ich aus meiner Frankreichtour zurück.

Anlage meiner Frankreichreisen in der 11.Klasse
Damit meine Ausführungen besser verstanden werden, schildere ich kurz Anlage und Zielsetzung der Frankreichrundfahrten, die ich seit etwa 12 Jahren während der Pfingstferien durchführe, wenn ich eine 11.Klasse unterrichte. Die Frankreichtouren (9 Tage: Verdun, Châteaux de la Loire, La Rochelle, Bordeaux, Montpellier, Nîmes, Mulhouse) sollen zum einen einen schönen Abschluss liefern für die Schüler, die Französisch nach der 11.Klasse ablegen, zum anderen Schülern der Parallelklassen, die den Leistungskurs französisch gewählt haben und mich nicht kennen, die Möglichkeit verschaffen, sich mit meinem Stil vertraut zu machen. Da ich Unterstützung brauche, bitte ich stets einige Studenten mitzufahren. Für sie hat es den Vorteil, dass sie Erfahrungen für ihren zukünftigen Beruf sammeln können. Die Grobstruktur der Reise wird von mir festgelegt (Jugendherbergen, eventuelle Führungen vor Ort), alles andere soll von den Schülern bestimmt werden. Dazu werden Schülergruppen mit unterschiedlichen Aufgaben gebildet: die Organisationsgruppe ist zuständig für die Planung und Durchführung der einzelnen Reiseabschnitte, die Bildungsgruppe informiert über die Sehenswürdigkeiten, die Filmgruppe dreht einen Videofilm, die Informationsgruppe gibt Auskunft über die Tagesaktualität, die Animationsgruppe sorgt für Stimmung am Abend und bei längeren Busfahrten.

Das Spezifische an der Reise dieses Jahres: die Schüler wollten ALLES MACHEN
Bei den bisherigen Frankreichreisen war ich schon im vorhinein auf einen harmonischen Verlauf gefasst, weil ich die Schüler in der Regel schon länger kannte und es sich vor allem um relativ kleine Gruppen (18 Leute) mit weiblicher Mehrheit handelte. Die diesjährige Gruppe bestand aus insgesamt 30 Leuten mit sehr hohem männlichen Anteil. Ich wusste, dass ich angesichts ihrer Energie und Selbständigkeit Tolles erwarten konnte, fürchtete mich aber vor den Nächten, die erfahrungsgemäß laut werden können, weil die Selbstkontrolle der Schüler am Abend nachlässt. Ich sah mich schon in den Gängen der Jugendherbergen um zwei Uhr nachts stehend und versuchend, meine aufkommende Wut gezielt modulierend zur Einschüchterung einzusetzen. Ferner war ich bei den vorigen Reisen daran gewöhnt, einen Teil der Organisationsaufgaben selbst zu erledigen. Das war bei den vorausgehenden Reisen notwendig, denn die einzelnen Schülergruppen waren relativ klein und mit ihrer Arbeit ausgelastet.

Dieses Jahr kam es anders! Nach zwei Tagen Fahrt wurde mir bei der Abendbesprechung mitgeteilt, dass meine allzudeutliche Steuerung nicht gewünscht war. Vielmehr wollten die Schüler MEHR MACHT! Sie wollten alles selbst erledigen. Beispielsweise die Zimmerverteilungen in den Jugendherbergen sollten nicht von mir - routinemäßig - vorgenommen werden, sondern die Schüler wollten selbst zum Empfang gehen und mit den Herbergsleuten Essenszeit, Zimmerverteilung usw. klären. EIN TRAUM! Ich ging sofort auf diesen Wunsch ein, und der nächste Tag wurde ganz von den Schülern gestaltet. Zwar ergaben sich zunächst kleine Pannen, weil die Schüler übersehen hatten, dass man lange vor der Durchführung des Tages schon alle Abläufe - mit Alternativen - im Kopf geplant haben muss, damit man beim Vorgang selbst variabel reagieren kann, aber sehr bald wurde dieses Problem bewältigt. Bei Unklarheiten oder in besonders schwierigen Situationen baten die Schüler um meinen Rat, ansonsten verlief alles nach Wunsch.

Besonders positiv war aus meiner Sicht, dass sogar das Nachtproblem gelöst wurde. Während ich bei früheren Reisen in der Nacht gelegentlich für Ruhe sorgen musste, wurde bei dieser Reise auch diese Aufgabe von den Schülern übernommen. Zwar wurde ich regelmäßig in der Nacht geweckt, weil Geräusche sich oft nicht vermeiden lassen, aber es war immer eine Freude zu hören, wie die Schüler der Organisationsgruppe die anderen mit "Pschtttt" zum Stillsein ermahnten!

Ein Problem, das sich allmählich stellte, war, dass die Schüler der Organisationsgruppen immer mehr Macht bekamen und sich eine Art Hierarchie herausbildete. Zwar waren Schüler der anderen Gruppen bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen, aber dieses Bedürfnis wurde erst im Laufe der Zeit erkannt und konnte angesichts der kurzen Dauer der Reise nicht mehr befriedigt werden. Bei einer künftigen Reise müsste dafür gesorgt werden, dass die Mitglieder der Organisationsgruppe allmählich als Berater in den Hintergrund treten und andere Schüler zum Organisieren anleiten.

Besonders wirksam aus pädagogischer Sicht scheint mir, dass die Mitglieder der Organisationsgruppe sehr rasch mit den Problemen vertraut wurden, die die Leitung einer Gruppe aufwirft. Durch ihre enge Zusammenarbeit mit mir konnten sie in kurzer Zeit entsprechende Kompetenzen gewinnen.

Fazit: der Biss und der Drang der Schüler nach verantwortungsvoller Aktivität hat mir eine Reise beschert, die ich fast wie ein Märchen erlebt habe. Sie haben die Macht ergriffen und optimal genutzt.


Fragen und Kommentare: jpm@ldl.de Zum Überblick: 'Jean-Pol Martins Tagebuch'