Reflexionen über meinen Unterricht in der 12.Klasse

Eintrag 22


Jean-Pol Martin
20.06.1999

Entwicklungspotentiale

Lange Zeit dachte ich, dass im Grunde jeder Mensch, wenn er nur richtig gefördert wird, jede beliebige Aufgabe in einer Gruppe übernehmen kann. Diese (naive) Vorstellung entstand dadurch, dass ich die Schüler im Unterricht nur ganz kurz (in der Regel 45 Minuten, sonst maximal 90 Minuten) beobachten konnte und bei den recht genormten Aktivitäten wenig Unterschiede zwischen ihnen sichtbar wurden. Bei längeren Projekten aber werden die stabilen Schwächen und Stärken der Einzelnen deutlich. Anlässlich meiner Parisreise und auch sonst im Unterricht des LK-12 fällt mir inzwischen auf, dass beispielsweise die Moderation einer Diskussion bestimmten Schülern konstant leicht, anderen konstant schwer fällt, unabhängig davon, ob sie darin wenig oder viel Übung haben. Natürlich verbessert sich die Moderationskompetenz bei allen Schülern, wenn sie diese Fertigkeit systematisch üben, aber nicht so, dass alle "gleich gut" werden. Zu dieser Erkenntnis kann man aber erst dann gelangen, wenn man ausgiebig Zeit hat, die Schüler zu beobachten und zwar in möglichst vielfältigen Situationen. Im Klassenunterricht sieht man nur eine Komponente der Schülerpersönlichkeit, nämlich die rein fachspezifische Leistungsfähigkeit: Kann er Inhalte klar und geschickt präsentieren? Wie ist seine Sprechkompetenz? Weiss er viel? Ist er energisch und aktiv? Im Rahmen eines größeren Projektes kann man ganz andere Fähigkeiten beobachten, die für die Gesamtstimmung in der Gruppe förderlich sind. So kann beispielsweise ein Schüler, der wenig Bereitschaft zeigt, im Unterricht oder bei Projekten "Leistung" zu bringen und als solcher in die Schusslinie des leistungsorientierten Lehrers geraten könnte, im Rahmen von Projekten allein durch seine Gegenwart eine wohltuende Stimmung verbreiten. Ein anderer Schüler, der im Unterricht zwar konstruktiv, aber nicht in der ersten Leistungsreihe steht, kann sich im Rahmen eines Projektes als ausgesprochenes Organisationsgenie erweisen, ohne den das Projekt bei weitem nicht so gelingen würde. Andererseits nützt es wenig, Schüler, die offensichtlich wenig Neigung zu bestimmten Tätigkeiten zeigen, FORCIERT für diese Tätigkeiten einzusetzen in der Hoffnung, dass sie durch mehr Übung auch mehr Können entfalten werden. Besonders fällt mir dies bei der Moderation von Diskussionen auf. Mir scheint, dass die Präsentation eines vorbereiteten Stoffes jedem zumutbar ist, während die Moderation eines Gespräches wohl die schwierigste Aufgabe ist, die man einem Schüler übertragen kann.

Diese Beschreibung stellt ein Plädoyer dar für eine Umstrukturierung des Unterrichts, weg vom 45 Minutentakt, hin zu mehr Projektarbeit, in der langfristig Entwicklungspotentiale der einzelnen Schüler erkannt und gefördert werden können. Übrigens: meine Schüler sind anderer Ansicht: sie meinen, dass ein solcher Unterricht soviel Einsatz von ihnen verlangen würde, dass ihre ausserschulischen Aktivitäten darunter leiden würden.


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