Reflexionen über meinen Unterricht in der 13.Klasse

Eintrag 27


Jean-Pol Martin
20.04.2000

Die neuen Kommunikationsmittel haben Veränderungen eingeleitet, die eine Beschreibung des Unterrichts - vor allem in der Oberstufe - fast unmöglich machen. Das Feld ist so turbulent, die Aktivitäten so vielfältig, dass ein Außenstehender entsprechende Schilderungen kaum nachvollziehen kann. Insbesondere ist der Unterrichtsprozess viel individueller geworden. Gerade die Möglichkeit, eine - je nach Bedarf - mehr oder minder intensive Email-Komunikation mit Schülern zu pflegen, sichert eine individuelle Betreuung, die es in dieser Form noch nie gegeben hat. Hier ein kurzer Gedankenaustausch zwischen der Schülerin Nora (11.Klasse, Ort unbekannt), Arthur (aus meinem LK-13) und mir.

THEMA:   Schüler-Lehrer-Kontakte per eMail ausserhalb der Unterrichtszeit

  

Jean-Pol Martin begann die Diskussion am 12.03.00 (08:12) mit folgendem Beitrag:

Gerne teilen mir Schüler per eMail mit, wenn ihnen etwas "gestunken" hat im Unterricht. Das ist eine fabelhafte Möglichkeit, direktes Feed-Back über pädagogische Fehler zu bekommen. Allerdings muss man sich daran gewöhnen, direkte Kritik, die manchmal weh tut, zu schlucken. Die Vorteile sind aber riesig. Das Klima wird viel vertrauter, fast familiär. Andererseits: wollen denn die Schüler soviel Vertrautheit? Ich bekomme fast jeden Tag Schülermails...


Nora antwortete am 27.03.00 (00:24):

Hi Jean-Pol! Auch unter dieser Rubrik schreibe ich Dir einmal *grins*
Zu der Frage, ob Schüler überhaupt soviel Vertrautheit wollen --> das ist eine gute Frage, die auch ich als Schülerin nicht mit Sicherheit beantworten kann...! Für mich persönlich kann ich sprechen, dass ich diese Vertrautheit sogar direkt nötig habe! Ich fühle mich dann wirklich wohl und gehe tatsächlich gerne in die Schule, weil es für mich dann eher wie eine Diskussionsrunde unter Freunden ist! Doch mit dieser Ansicht kann ich sicher nicht für die Mehrheit sprechen! Ich merke, wie sehr viele Schüler/innen die Distanz halten... teilweise wird die vorhandene Vertrautheit auch mal gänzlich ausgenutzt, was wohl die größte Gefahr darstellt! Das ist traurig, aber so ist es nun mal - und ehrlich gesagt bin ich damit auch nicht zufrieden - aber auch ich habe mittlerweile gelernt, mich dementsprechend anzupassen bzw. leben zu lassen - und mit meiner eigenen Ansicht für mich zu leben --> wer wird wohl mehr Spaß am Leben haben?!! *grins*


Arthur Müller antwortete am 30.03.00 (14:11):

Als Schüler von Herrn Martin gebe ich Nora recht. Auch für mich ist es wichtig, engen, wenn auch sinnvoll distanzierten Kontakt zu meinem Lehrer zu halten. So werden Spannungen bereits bevor sie richtig entstehen wieder abgebaut. Wenn ich das didaktische Konzept der heutigen Stunde, irgendwelche Ausdrücke oder die Hausaufgabe nicht in Ordnung finde, dann teile ich das meinem Lehrer mit. Ist das persönlicher Natur, bekomme ich auch ein persönliches Antwort-eMail. Geht das alle Schüler an, so wird das in der nächsten Stunde im Plenum besprochen.
Diese Form der Kommunikation ist wesentlich effektiver als zu versuchen, dem Lehrer in der Pausenaufsicht hinterherzulaufen oder ihn am Parkplatz abzufangen! Und ich traue mir Wetten, dass viele Missverständnisse und Vorurteile zwischen Lehrern und Schülern durch diese Form der Kommunikaiton abgebaut werden können.

 

Dass die Kompetenz vieler Schüler, die wir heute unterrichten, hoch anzusiedeln ist, kann man an dem "Nora-Projekt" im ZUM-Forum verfolgen (Überforderung der Lehrer - Unterforderung der Schüler). Dort hat sich ein LdL-Beraterteam gebildet, bestehend aus dem Kollegiaten Arthur Müller (LK-13), Nicola Schäfer (8.Klasse) und meiner ehemaligen Schülerin Judith Hegenberger (Studentin). Dieses Team berät die Schülerin Nora (11.Klasse), die sich vorgenommen hat, LdL an ihrer Schule bekannt zu machen und - wenn sie eine entsprechende Lehrerin findet -, auch im Unterricht einzuführen.

Abschließend möchte ich als Zusammenfassung zu meiner Arbeit in den beiden letzten Schuljahren (LK-Französisch 1998/2000) erneut Arthur Müller zu Wort kommen lassen. Natürlich würden nicht alle Schüler des Kurses seine positive Schilderung unterschreiben! Dennoch zeigt dieser Text, welche Ansprüche ein Schüler an den Unterricht stellt und vor welchen Aufgaben ein Lehrer steht, der solche Ansprüche erfüllen möchte. In seinem Wunsch, Felder zur Entfaltung seiner Fähigkeiten in der Schule geliefert zu bekommen, unterscheidet sich Arthur nicht grundlegend von seinen Mitschülern.

Arthur Müller

An: Nora

Betreff: AW: tip von J.-P. Martin! :-)

Hallo Nora!

Na klar, ich antworte dir immer! Zwar hat mir M. Martin (=Jean Pol Martin, ein echter Franzose) gesagt, dass ich mal bei www.zum.de vorbeischauen soll, doch wann, wenn ich auch diese Nacht wieder bis 2.30 Uhr Elo (Elektronik) gelernt habe? Macht nichts, dafür schieße ich gleich los:

  1. Voraussetzungen für einen gelungenen Unterricht
  2. Positive Eindrücke
  3. Negative Eindrücke
  4. Zu deinem Thema
  5. Material
  6. Fragen von mir

******************************************************  
* 1. Voraussetzungen für einen gelungenen Unterricht * ******************************************************

LdL heißt "Lernen durch Lehren". Konkret: die Schüler gestalten den Unterricht unter der Regie des Lehrers. Dabei hat der Lehrer das gesamte Stoffgebiet im Blickfeld und arbeitet etappenweise auf das Endziel hin. Er gibt den Schülern das Material, weist sie ein und teilt ihnen die wichtigsten Punkte noch einmal mit, damit die Schüler ungefähr wissen, was sie zu tun haben.

=> Der Lehrer muss zum einen eine derart ausgereifte kognitive Landkarte besitzen, dass er locker den Stoff von 2 Schuljahren überblicken kann und jederzeit die gesammelten Ergebnisse in einen Gesamtkontext stellen kann. Und zweitens muss er auch extrem viel wissen. Schließlich teilt er den Schülern, die den Unterricht halten sollen, bloß das wichtigste mit. Und die wiederum filtern noch einmal das wichtigste daraus heraus, um es den restlichen Mitschülern beizubringen. Bleiben dann noch Fragen im Raum, muss der Lehrer kompetent antworten können. Leider sind diese zwei Komponenten zusammen aber eine sehr seltene Gabe; die meisten Lehrer an unserer Schule besitzen sie nicht. Das ist an deiner Schule gewiss auch so.

Du bereitest einen Unterricht immer zusammen mit einem Partner/Partnerin vor. Mach das niemals allein!!! Dazu müsst ihr euch bereits im Vorfeld genau im Klaren sein, WAS ihr den anderen beibringen wollt und v. a. WIE ihr dabei vorgehen wollt. Das didaktische Konzept ist also extrem wichtig. Ich würde sogar sagen, wichtiger als der eigentliche Inhalt. Aber wir wollen mal nicht übertreiben! :-)

Bitte immer daran denken:

  • immer (natürlich) lächeln
  • sehr selbstsicher wirken
  • die restlichen Mitschüler ständig beobachten und versuchen, Unruhen zu vermeiden
  • jede Antwort ernst nehmen und niemanden auslachen: es darf sich keiner genieren!
  • für (fast) jede Antwort solltest du dich irgendwie bedanken. Gute Antworten sollst du sogar loben!
  • aktiviere deine Mitschüler in Form von Gruppenarbeit (meistens zu zweit); sie können Texte ausarbeiten, Gedichte schreiben, Pantomime spielen, eine Karrikatur zeichnen, einen Dialog vorbereiten oder ein Plakat entwerfen.
  • lass den Kernpunkt oder auch die Kernaussage deines Unterrichts im Plenum diskutieren. Das ist sehr wichtig! Dabei müssen immer alle eingebunden sein. Nur allzu leicht entstehen Randgruppen, die sich von der Diskussion ausschließen - entweder, weil sie nicht mehr folgen können oder weil du ihre Meldungen übersehen hast.
  • du und dein Partner/Partnerin, ihr müsst ein perfekt eingespieltes Team sein. So kann z. B. einer den Stoff präsentieren und der andere ist für die Stimmung in der Klasse verantwortlich (Meldungen, Ratschen, Tagträume, ...) Dann könnt ihr euch abwechseln. Leider habe ich selber schon erlebt, dass mein Partner kein großes Interesse an dem Thema hatte, das wir bearbeiten sollten; er wollte lieber Interferenzen berechnen. Dann ist es wirklich verdammt schwer, alles zu koordinieren, den Unterricht zu halten und den Partner auch noch einzubinden. Also: bitte alles im Vorfeld klären!
  • überrasche deine Mitschüler mit Witz und Kreativität. Das darf anfangs ruhig lächerlich erscheinen; blöd sein darf es aber nicht! So sollte ich z. B. mal das Thema "Surrealismus" bearbeiten. Dazu habe ich die Klasse in 3 Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe sollte herausfinden, wer von ihnen in der Nacht zuvor den komischsten Traum gehabt hat. Die einen sollten ihn dann malen, die anderen spielen und die dritten darüber ein Gedicht schreiben. Zuerst haben die mich angestarrt als wäre ich vom Mond gefallen. Doch dann war das echt witzig, und die erinnern sich immer noch daran!
  • am Ende musst du dringend den Stoff zusammenfassen und ihn in einen Kontext stellen. Sonst ist die Information verloren.

*************************  
* 2. Positive Eindrücke *  
*************************

Mit Sicherheit kann ich behaupten, dass Französisch bei M. Martin mich am nachhaltigsten geprägt hat. Es hat mir dazu verholfen, Sachen zu machen, die mich auch auslasten. (Damit habe ich die Kurve gekratzt zum Ausgangsthema: Überforderung der Lehrer, Unterforderung der Schüler) So habe ich z. B. zusammen mit dem Markus eine Schülerhomepage für unseren LK gemacht. Oder ich war beim LdL-Bundestreffen und habe so manches über den Aufbau der Homepage gelabert. Oder ich war sogar zwei Tage hintereinander beim BGS (Bundesgrenzschutz) und habe ein paar Tipps bei der Lehrerausbildung gegeben - sofern ich das überhaupt noch konnte, denn die waren verdammt gut! Wir haben auch endlich einmal die gesamte Geschichte vom Beginn des Mittelalters bis heute in nur zwei Jahren verständlich durchgenommen. Wenn ich überhaupt etwas von Geschichte verstehe, dann von Französisch und ganz gewiss nicht vom eigentlichen Fach "Geschichte". Wir haben noch sehr viel Literatur durchgenommen, uns zur genüge Gedanken zu den einzelnen Epochen gemacht, Plakate angefertigt, Schlüsselqualifikationen geübt, Sondertreffen veranstaltet, Reisen unternommen und und und ... Wenn mich jemand in 10 Jahren fragt, was mir zum Schlagwort "Schule" einfällt, dann sage ich mit Sicherheit LdL bei M. Martin.

Gut gefallen hat mir die pädagogische Kompetenz von M. Martin, sein enormes Wissen, seine Fähigkeit, Information in einen geordneten Kontext zu stellen und somit in Wissen umzuwandeln, sein enormes Interesse für uns (ich habe schon so manche lange Stunde in seinem Büro verbracht und zusammen mit ihm über seine Methode philosophiert, das Problem der Identitätsfindung diskutiert, ...) und v. a. seine Gütigkeit. Er wird eigentlich nie sauer, wenn er auch zielbewusst den Unterricht hält. Streng ist er nicht, diszipliniert halt. Es hat sehr viel Spaß gemacht, so interaktiv Themen zu bearbeiten. v. a. wurde dadurch der Wissensdurst immer größer, denn auf einmal hat man die Zusammenhänge kapiert. Man lernt eben wirklich etwas für das Leben und nicht irgend so eine staubtrockene Materie. Wir konnten uns in gewissem Maße selbst verwirklichen. Und das hat mir gefallen.

Ach ja, noch was: er verträgt Kritik. Das ist Wahnsinn. Ich habe ihn mit Sicherheit schon ein paar mal nicht gerade sanft zurechtgewiesen. Trotzdem ist er nicht sauer. Wer weiß, vielleicht ist er ja Humanist? Außerdem geht bei uns sehr viel über das Internet bzw. via eMail. Man bekommt immer eine Antwort auf eine Frage.

==> Ich finde, es gibt so viele positiven Aspekte, dass man die wenigen unten beschriebenen Punkte locker wegstecken kann. LdL bei M. Martin war der genialste Unterricht, den ich je erlebt habe. Die Schüler waren optimal ausgelastet, wurden intelligent gefordert und haben sehr viel gelernt und Spaß gehabt. Note: sehr gut; sehr empfehlenswert.  

*************************  
* 3. Negative Eindrücke *  
*************************

Um neben dem normalen Stoff auch noch Literatur, Geschichte und andere Sachen zu machen, muss man sehr hart arbeiten. Das eigentliche Französisch-Lernen ist zu Hause passiert. So müssen wir selbständig die Grammatik lernen und daraufhin ein zusammenfassendes Blatt ausfüllen. Die Übungen machen wir auch zu Hause. Außerdem gibt es jede Woche 3 Seiten Vokabeln aus einem Vokabelbuch mit einem kurzen Test am Freitag jeder Woche und eine halbe Abituraufgabe pro Woche. Da kommt man doch ganz schön ins schwitzen! Spannungen treten v. a. dann auf, wenn wir pro Woche 2 bis 3 Schulaufgaben schreiben und wir dann immer noch so viel für Französisch machen müssen. Man kann also sagen, dass die LdL-Methode für ein einziges Fach mit Sicherheit ganz gut ist. Doch in allen Fächern geht das gar nicht. Der Tag hat bloß 24 Stunden!

Was mich persönlich ziemlich genervt hat ist, dass wir so viel Literatur gemacht haben. Inzwischen erkenne ich, das auch das interessant sein kann. Doch stell dir vor, du hockst ein halbes Jahr im Unterricht und wirst literarisch vollkommen ausgekocht. Ich wäre da fast explodiert. Gut, dass ich mich am Riemen gerissen habe. Was ich auch noch ein bisschen unschön finde ist das Selbstlob von M. Martin. Wie toll wir doch sind, und dass wir die allerbeste Klasse seines Lebens wären. Mit uns hätte er so viel erreicht. Und die Methode ist so toll, er ist so genial, und wir sind genial, intelligent, hypergescheit, den anderen überlegen. Vorsprung durch LdL ... bla bla bla.

**********************  
* 4. Zu deinem Thema *  
**********************

Es ist richtig. Bei uns gibt es kein Mobbing. Jeder ist wie ein Zahnrad eines großen Getriebes, wie ein Neuron in der Gesamtheit eines Gehirns. Jeder kann etwas, was die anderen nicht können. Deswegen ist bei uns jeder wertvoll. Und ich muss gestehen: in den 3 Jahren bei M. Martin habe ich kein einziges Mal an Mobbing gedacht. Bei richtiger Anwendung seiner Methode existiert so etwas gar nicht.

Zu Mobbing fällt mir spontan auch nichts ein - aus dem besagten Grund. Die beste Art, den andern beizubringen, nicht zu mobben, ist, sich mit ihnen zu solidarisieren und Freundlichkeit zu zeigen. Geh also mit gutem Vorbild voran und mach z. B. mal einen Probeunterricht nach der LdL-Methode, in dem jeder wichtig ist, jeder gefordert wird und jeder auf den anderen angewiesen ist. Ein gemeinsames Gruppenerlebnis schweißt zusammen. Was weiß ich, mach z. B. einen Erdkundeunterricht. Und am Ende erst sagst du, dass du damit nur zeigen wolltest, wie sinnlos Mobbing ist. Erwähne also das Thema zuerst gar nicht. Nur aus der Erfahrung und der Erkenntnis zeigt sich, was du sagen willst.

Auf jeden Fall mache ich mir dazu noch ein paar Gedanken. Bis zum Ende der Osterferien wird mir schon noch was einfallen. Ich rühre mich auf jeden Fall noch einmal, egal ob ich dir nun tatsächlich etwas empfehlen kann oder nicht. Deine eMail-Adresse habe ich gespeichert.  

***************  
* 5. Material *  
***************

(A) Zu LdL, Jean-Pol Martin & Co.:  
Web:    http://www.ldl.de  
eMail: jpm@ldl.de  
Tel.:  - wird nicht veröffentlicht -

(B) Zu mir:  
Web:   http://www.maixchange.de (gehört mir)  
eMail: arthur.mueller@maixchange.de  
Tel.:  - wird nicht veröffentlicht -

Anschrift:
- wird nicht veröffentlicht –

(C) Suche im Web:  
Beste Suchmaschinen:  
1. http://www.altavista.de  
2. http://www.lycos.de  
3. http://www.yahoo.de

  
*********************  
* 6. Fragen von mir *  
*********************

Du scheinst sehr engagiert zu sein. Ich finde es toll, dass du dich auch für solche Themen interessierst. Was machst du eigentlich sonst noch? Bist du in der Schülerzeitung, im Orchester oder in der Theatergruppe? Bist du vielleicht Klassensprecherin? Wo gehst du zur Schule und welche Klasse besuchst du?

Ich bin halt ein bisschen neugierig. Kannst du also bitte ein bisschen über dich und deine Aktivitäten schreiben?  

Bei Fragen kannst du dich immer bei mir rühren.

Viele Grüße,

Arthur


Fragen und Kommentare: jpm@ldl.de Zum Überblick: 'Jean-Pol Martins Tagebuch'