Reflexionen über meinen Unterricht in der 10.Klasse

Eintrag 28


Jean-Pol Martin
06.10.01

Nach längerer Abstinenzzeit möchte ich das Tagebuch über meinen Unterricht fortsetzen.

Zur Zeit unterrichte ich eine Gruppe von 17 Schülern, die Französisch als dritte Fremdsprache lernen, d.h., dass sie 5 Stunden in der Woche mit mir verbringen und dass sie Kenntnisse in Latein haben. Die Klasse hat letztes Jahr mit mir Französisch in der 9. begonnen und ich führe sie nun in der 10. weiter. Die Gruppe ist sehr lebhaft, kreativ, verfügt über eine Reihe von starken Persönlichkeiten. Sie ist in der Lage, durchgängig konzentriert zu arbeiten. Aus meiner Sicht hat sich mein LdL-Unterricht durch die Arbeit mit diesen Schülern stark weiterentwickelt.

  1. Verantwortung über den Ablauf einer Lektion einem Schüler übertragen:
    Sehr bald, etwa nach sechs Monaten, habe ich einen Schüler gebeten, die Verantwortung für eine ganze Lektion zu übernehmen. Seine Aufgabe war, den ganzen Stoff (Wortschatz, Texte und Grammatik) auf die Klasse zu verteilen und dafür zu sorgen, dass der Ablauf reibungslos erfolgt. Er musste also die Arbeit von zwei bis drei Wochen überblicken und verantworten. Nach einigen kleineren Anpassungsproblemen meisterten die Schüler diese Aufgabe so überzeugend, dass ich diese Technik seitdem beibehalten habe. Sehr erfreulich war beispielsweise, dass am Ende des Schuljahres, zu einer Zeit, in der wir im Stoff etwas zurücklagen, Sebastian seinen Ehrgeiz darin steckte, das Buch abzuschließen. Es gelang ihm bravourös. Bisher waren zwei Schüler (Michaela und Sebastien) in der Lage, diesen anspruchsvollen Auftrag zu erfüllen. Dieses Jahr werde ich versuchen, weitere Schüler heranzuziehen.
       
  2. Die Aufteilung des Stoffes:
    Auch hier eine deutliche Modifikation. Die neue Grammatik wird auf etwa 4 Schüler verteilt (wie schon immer). Der neue Text aber wird nicht mehr in kleinen Abschnitten eingeteilt, sondern als Ganzes einer Gruppe von etwa 6 bis 7 Schülern übertragen. Das eröffnet diesen Schülern die Möglichkeit, die Inhalte des ganzen Textes vorzuspielen, oder pantomimisch darzustellen. Auch der Wortschatz zum neuen Text wird nicht mehr nach Textabschnitten unterteilt, sondern drei Schülern vergeben mit dem Auftrag, bereits im Voraus den ganzen neuen Wortschatz vorzustellen. Zusammenfassend: die Gruppen sind größer und haben deutlich mehr zu tun. Eine 4er-Gruppe stellt die ganze Grammatik vor, eine 3er-Gruppe stellt den ganzen Wortschatz vor und eine 7er-Gruppe stellt den ganzen Text vor. Ein Schüler hat die Übersicht und trägt die Verantwortung für die ganze Lektion.
      
  3. Die Techniken zur Wortschatzpräsentation:
    Am Anfang arbeiteten die Schüler traditionell, also mit Folien (Zeichnungen, Wortgleichungen usw.). Dazu kamen bald Pantomimen, oder das Erraten lassen (en latin on dit "descendere" pour "hinuntersteigen"; et en français?). Das Raten wird auch sehr gerne bei Grammatikpräsentationen eingesetzt ("finir" veut dire "beenden"; essayez de conjuguer "finir").
    Seitdem ich einen Moderatorenkoffer mit Kärtchen, Stiften, Farben etc. dabei habe, haben die Schüler neue Techniken der Wortschatzpräsentation entwickelt:
  1. Sie zeichnen auf einem Kärtchen einen Gegenstand (z.B. Wolken) und auf einem anderen schreiben sie das Wort "nuage". Bei der Präsentation kleben sie die Zeichnung an die Tafel und dazu dann die schriftliche Entsprechung. Diese Vorlage eröffnet dann eine Fülle von Übungsmöglichkeiten (Wort allein, ohne Zeichnung, Zeichnung allein, Abdecken, Bilder nacheinander der Klasse zeigen und Wörter abfragen usw.). Ich behalte diese Kärtchnen und lasse ab und zu Wortschatzwiederholungen durchführen.
  2. Eine andere Möglichkeit ist, ohne vorherige Entlastung des Wortschatzes einen neuen Text gleich vorzustellen. Beim Auftreten eines unbekannten Wortes wird ein Gegenstand oder eine Zeichnung gezeigt, die das unbekannte Wort verbildlicht. So wird der neue Wortschatz gleich im Kontext eingeführt.
  3. Eine neue Form der Wortschatzeinführung, die aber noch nicht zu 100% funktioniert: die mit der Einführung des neuen Wortschatzes betrauten Schüler erfinden einen Text mit den neuen, unbekannten Wörter und diktieren ihn. Beim ersten mal hat es nicht geklappt, weil alle Wörter des Diktates unbekannt waren. Ich denke, beim nächsten Mal wird es besser gehen, wenn die Schüler mehr Bekanntes mit Unbekanntem vermischen.
  1. Textvorstellung:
    Sehr gerne wird der Text als Rollenspiel präsentiert. Aber alle anderen Techniken kommen auch zur Anwendung:
    • ein Schüler trägt eine knappe Zusammenfassung des Inhaltes anschaulich (ohne zu lesen) vor und stellt Fragen im Anschluss;
    • oder die Kassette wird gleich, ohne vorherige Einführung mit Unterbrechungen vorgespielt; im Anschluss werden Fragen gestellt;
    • es wurde auch einmal ein kleiner Videofilm von den verantwortlichen Schüler mit den neuen Textinhalten angefertigt und dem Rest der Klasse als Erstbegegnung vorgespielt.
    • Die Neuerfindung (Michaela, Ramona, Sandra): Die wesentlichen Stellen des neuen Textes sind von den verantwortlichen Schülerinnen auf insgesamt 14 Kärtchen geschrieben worden. Es wurde 2 Gruppen gebildet, die jeweils 7 Sätze bekommen haben. Sie sollten aus diesen Sätzen eine zusammenhängende Geschichte erfinden. Im Anschluss kamen die 7 Schüler nach vorne, jeder hielt ein Kärtchen mit einem Satz in der Hand und trug diesen Satz vor. Das Ganze bildete eine Geschichte. Eine tolle Idee!!!

PS: Mehr beiläufig habe ich mir kürzlich ein Feed-Back eingeholt (wir waren gerade mit der ersten Lektion fertig und ich hatte eine Extemporale gehalten).
Was die Schüler an mir partout nicht mögen:

  • Dass ich zu schnell interveniere und ihre Präsentationen durcheinander bringe. Ich sollte darauf vertrauen, dass sie auch bei Schwierigkeiten alleine zurechtkommen. Dieser Vorwurf höre ich seit 20 Jahren immer wieder. Es fällt mir schwer, mich zurückzuhalten. Heute haben zwei Schüler die Texte B und C (in Cours intensif 2) in kleinen Abschnitten eingeteilt und auf ihre Mitschüler verteilt. Sie haben eine Übersicht angefertigt mit den Schülernamen und den jeweiligen Aufgaben. Sie werden nun etwa zweieinhalb Wochen die Verantwortung über den Ablauf der Stunden tragen. Es ist wirklich beachtlich, was diese Klasse leistet...Meine Aufgabe reduziert sich auf das Anfertigen von zusätzlichen Übungsblättern und Tests und auf das Korrigieren von Fehlern. Alle anderen Interventionen werden von den Schülern sehr streng zurückgewiesen!

Fragen und Kommentare: jpm@ldl.de Zum Überblick: 'Jean-Pol Martins Tagebuch'