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Als Schulleiterin begonnen ...
Schritte auf dem Weg zu einer eigenen Schulentwicklung


„Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht,
sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“ Seneca

ANLASS UND BEGINN

Zugleich mit der Einführung eines fortgeschriebenen, im Grundsatz neuen Bildungsplans die Leitung einer Schule zu übernehmen, stellte für mich einen besonders reizvollen Anlaß dar, an so etwas wie Schulentwicklung überhaupt zu denken. Die Motivation war umso größer, als die intensive Mitarbeit am Bildungsplan meine Vision von Schule deutlich geprägt hatte.

In der Funktion der Schulleitung war die Schul-Arbeit allerdings für mich so neu, wie für die Schulgemeinde die neue Rektorin unbekannt war. Sowohl diese Tatsache als auch die Grundlagen und Inhalte des Bildungsplans würden eine - in fortgeschrittenem Alter der Lehrkräfte - neue Reflexion des gemeinsamen Tuns erfordern. Ob wir alle an unserer Schule dies nun wollten oder nicht, wir mußten uns neu auf Neues, neu aufeinander einlassen, es und einander kennenlernen, durchdringen und womöglich kritisch hinterfragen. Personelle Strukturen würden sich ebenso in Frage stellen lassen und neu formieren müssen wie Ziele, Inhalte und die Organisation von Unterricht sowie von Schule als System.

Unsere Schule, das waren und sind etwa fünfzig Lehrerinnen und Lehrer, 820 Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern, außerdem städtische Bedienstete; unsere Schule ist darüber hinaus sehr beengt mit Wanderklassen und steigenden Schülerzahlen - ein großes Projekt also mit eher ungünstigen äußeren Rahmenbedingungen.

Meine ersten Eindrücke waren dennoch erfreulich: Freundliche Schülerinnen und Schüler, aktive Eltern, ein sehr aufgeschlossenes, kreatives Kollegium.

Dennoch war mir bewußt, daß Veränderungen selten positiv aufgefaßt werden, daß Menschen gerne an liebgewordenen Gewohnheiten festhalten und die bewährte Erfahrung höherwertig einschätzen als irgendetwas noch nicht erprobtes Neues. Außerdem war mir klar, daß es einen Unterschied macht, ob ich von außen in ein in sich geschlossenes System eindringe und dieses von dort aus beobachte und bewerte oder ob jemand sich innerhalb des Systems befindet und keine externe Sicht der Dinge haben kann.

Also war für mich das abwartende Verhalten, das Kennenlernen, Vertrauen aufbauen, viele Gespräche führen und zuhören der Beginn meiner Schulleitungstätigkeit.

Konkret bedeutete dies:

  • Eltern, Schüler, Kollegen direkt ansprechen
  • Im Lehrerzimmer als eine unter anderen sein und zuhören
  • Immer eine offene Tür haben
  • Probleme oder Konflikte stets im Dialog lösen
  • Alle an Entscheidungsprozessen teilhaben lassen

ZIELE UND KONKRETE SCHRITTE

Meine Vision war eine Führung durch Kommunikation mit dem Ziel von Mitsprache, Beteiligung, Gefragtwerden, mehr Demokratie und weniger Hierarchie. Dabei ist mir gleichermaßen die Idee des Forderns, der Leistung und Disziplin wichtig, worauf wir bei den Schülerinnen und Schüler abzielen müssen in dem Maße, wir wir es ihnen vorleben. Mehr Freiheit für alle heißt immer mehr Disziplin und Selbstverantwortung beim einzelnen. Mehr Menschlichkeit für alle heißt immer mehr Bescheidenheit und Sich-Zurücknehmen-Können beim einzelnen. Hier einen Weg der Mitte einzuschlagen bedeutet stets eine Gratwanderung, wenn die Spur nicht verloren werden darf. Verstanden zu werden, war zunächst vorrangig wichtig, um so schwieriger, wenn wir bedenken, daß das Mißverständnis bei menschlicher Kommunikation eher die Regel ist als das unmittelbare Verstehen.

Die Auseinandersetzung mit Lernprozessen - sowohl bei Individuen, bei Gruppen und bei Organisationen - bestärken mich in der Überzeugung, daß Veränderungen nur kleinschrittig und langsam erfolgen dürfen, weil sie als Einschnitte in das Sicherheitsbedürfnis von Menschen zu betrachten sind. Letzteres hat den grundlegenden Wunsch nach Stabilität von Situationen zur Folge. Unter dieser Prämisse Innovationen anzustreben und diese in positiver emotionaler Atmosphäre und sozial verträglich zu initiieren, ist niemals einfach.

Unser „Innovationsfahrplan“ seit 1994 sieht wie folgt aus:

Januar 1994 Amtsantritt als Schulleiterin
Mai 1994 Planung des neuen Schuljahres unter Berücksichtigungen der Neuerungen im Realschulbildungsplan; zum Beispiel „Fächerverbindender Unterricht", Lehrerteams in Klassen und für verschiedene zu erarbeitende Themen, etwa „Schülermitverantwortung an unserer Schule“
September 1994 Projektwoche/Fächerverbindender Unterricht „Unsere Schule - Unsere Umwelt“
Dezember 1994 Projekt „Kinder helfen Kindern“- Adventsmarkt
Februar 1995 Pädagogischer Tag „Schülerorientierte Unterrichtsformen selbst erleben“, durchgeführt von Theaterfachleuten
März 1995 Wochenendseminar „Calw I“ mit Eltern, Schülern, Lehrern zum Thema „So stellen wir uns unsere Schule vor“
Mai 1995 Vorbereitung des kommenden Schuljahrs; zum Beispiel Projekte, Beginn einer Freiarbeitsklasse
Juli 1995 Der Elternbeirat läd zu einem Fest ein
Februar 1996 Wochenendseminar „Calw II“ - Eltern, Lehrer Schüler zum Thema „Alternative Elternabende gestalten“; Entstehung der Idee des GIBSEL („Gemeinsam immer Besser - Schüler, Eltern, Lehrer“)
März 1996 Wochenendseminar „Calw III“ - Eltern, Lehrer, Schüler zum Thema „Innere Schulreform im Bereich der Stundenplangestaltung“
April 1996 Spatenstich für einen umfangreichen Erweiterungsbau - nicht zuletzt auch eine sehr hilfreiche „Schulentwicklung“

EINSCHÄTZUNG DER ENTWICKLUNG UNSERER SCHULE BIS HEUTE

Aus meiner persönlichen Wahrnehmung heraus stelle ich fest, daß erstaunliche Dinge in Bewegung geraten. Im Bereich des Unterrichts werden Neuerungen ausprobiert; bei allen die Schule betreffenden Themen, wie etwa bei der Stundenplangestaltung, sind stets eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen aufgeschlossen und bereit mitzuarbeiten. Dabei hat sich der Teamgedanke inzwischen durchgesetzt. Fortbildungen in Teams außer- und innerhalb der Schule sind die Regel. Der „Wir“- Gedanke an der Schule ist in vielen Bereichen spürbar, auch unter Einbeziehung von Eltern, etwa als Experten im Unterricht, besonders bei Projekten. Letztere finden zunehmend statt und lassen eine Fülle von kreativen Ideen erkennen. Ein Kollege zum Beispiel hat ein historisches Theaterstück geschrieben, eine Unterrichtseinheit „Unser Heimatraum“ in einem Projekt zusammen mit einer Parallelklasse und mehreren Lehrerinnen und Lehrern sowie den Eltern der beiden Klassen durchgeführt. Der Höhepunkt dieser Einheit wird die Aufführung des Theaterstücks im Sommer 1996 sein, bei dem wiederum Lehrer, Schüler und Eltern beteiligt sind.

Gemeinsam haben Eltern, Schüler und Lehrer die Idee des „GIBSEL“ entwickelt, das heißt „Gemeinsam immer besser - Schüler, Eltern, Lehrer“; aus diesem Motto soll nicht nur ein Emblem der Schule werden, sondern möglichst auch eine geistige Haltung bzw. eine Identifikationsidee.

WIDERSTÄNDE UND DEREN REFLEXION

Es darf nicht verschwiegen werden, daß es immer auch Widerstände gibt. Sie sind normal und fruchtbar für die eigene Reflexion, allerdings ließen sie mich auch gelegentlich in ein Wechselbad der Gefühle eintauchen. Aussagen wie „das ist Anarchie“ im Hinblick auf die Demokratisierung der Strukturen und meinen Wunsch nach Partizipation des Kollegiums an Entscheidungen tun mir weh, machen mich auch wütend, weil ich nicht verstehen kann, daß jemand freiwillig in Unmündigkeit verharren möchte.

Das Hauptproblem ist aus meiner Sicht, in der notwendigen differenzierten Form die Vision von Schule und allen die Schule betreffenden Bereichen so verständlich zu machen, wie sie meinen Gedankenkreis, mein Denkgebäude ausmachen. Das betrifft die spezifische Form von Unterricht, die ich mir schülerorientiert vorstelle in dem Sinne, daß Schüler ernstgenommen werden, daß ihnen Leistung abverlangt wird und daß dies mit einer liebevollen Grundhaltung verbunden ist. Eine freundliche Grundhaltung kann leicht zu einer leistungsfeindlichen Haltung umgedeutet werden, die demokratische Einstellung meinerseits mit dem Wunsch nach Mitsprache und Mitbeteiligung aller kann ohne weiteres zu Führungsschwäche oder „Laissez-Faire“-Haltung hin ausgelegt werden. Daß es überhaupt mir als Schulleiterin wichtig ist, eine Schulphilosophie zu haben und die Funktion nicht nur als Verwaltungsaufgabe zu sehen, ist nicht immer leicht verständlich zu machen. Innovationen als notwendig zu erachten, wird öfters mit dem Argument abgelehnt, daß die Erfahrung der letzten zwanzig Jahre gezeigt habe, wie gut das Bewährte sei. Die Befürchtung, daß neue Unterrichts- oder Organisationsformen keinerlei positive Veränderungen im Verhalten und in der Leistung der Schüler zur Folge haben, wird geäußert mit der Auffassung, daß eine Veränderung eben auch eine Verbesserung bringen müsse.

„Wir haben seit zwanzig Jahren hervorragende Abschlußprüfungen gemeistert, warum sollten wir etwas ändern“ oder „es liegt in der Natur der Sache, daß einer allein das Sagen hat, das vereinfacht außerdem die Abläufe an der Schule“ - solche Aussagen müssen ernstgenommen und im Dialog besprochen werden. Es entstand zum Teil sehr unangenehmes Konkurrenzverhalten zwischen Kolleginnen und Kollegen, zwischen denen, die eher innovationsbereit und denen, die zunächst abwartend waren. Teilweise spitzte sich dies zu, gerade weil zuvor die Situation sehr stark hierarchisch war. Die Öffnung von meiner Seite stellte alte vermeintliche „Machtstrukturen“ in frage, was zwangläufig nicht auf Gegenliebe stößt bei denen, deren Aufgabenbereiche und damit verbundene Vorteile neu zur Disposition gestellt werden.

Ich beobachte, daß innerhalb eines großen Kollegiums, in dem die meisten schon sehr lange zusammen an einer Schule sind, Gefühle über lange Jahre und Jahrzehnte wie ein Netz, das sich immer mehr anfüllt, mitgeschleppt wird. Eine neue Leitungsperson bringt es mit sich, daß sich neue Gruppen bilden, daß Konkurrenz neu entsteht, Positionen neu ausgehandelt werden müssen, Ziele, Methoden und Umgangsformen neu gesteckt und geprägt werden.

Erstaunlicherweise werden die verschiedenen Lehrerfunktionen an einer Schule - obwohl die meisten in der gleichen Gehaltsstufe und in der gleichen Arbeitssituation stehen - vermeintlich mit Macht verbunden, also auch mit befürchtetem Machtverlust, wenn Funktionen neu reflektiert und neu verteilt werden. Von denen, die zuvor soche „Machtpositionen“ innehatten, werden Transparenz, Offenheit und Demokratisierungsbestrebungen mit großer Skepsis begleitet. Ich höre Sätze wie „Demokratie funktioniert nicht an einer so großen Schule“, „die Kollegen sind nicht zu Teamarbeit fähig, dazu sind sie nicht erzogen“, „das (ein bestimmter Arbeitsbereich) muß in einer Hand bleiben, das liegt in der Natur der Sache“ , „die Eltern sollten aus der Schule draußen bleiben“ oder ähnliches mehr.

Derlei Aussagen, so muß ich gestehen, erscheinen mir manchmal als ärgerliche „Killerphrasen“, zwingen mich aber zur gründlichen Reflexion und zur ständigen Begründung meines Handelns und meiner Entscheidungen. Da der Mensch von seiner anthropologischen Grundlage her als antinomisch zu verstehen ist, wirkt sich dies auf die Kommunikation in einem System doppelt aus: Zum einen ist die Einzelperson in ihrem Handeln niemals „linear“, sondern komplex und durch Antinomien bestimmt; zum anderen führt diese Situation der einzelnen zu hochkomplizierten Gruppenprozessen, innerhalb derer die vorhandenen Widersprüche zu komplexen und vielfach vernetzten Strukturen und Handlungsabläufen führen. Gerade deshalb aber ist ein hierarchisches Denken in seiner Wirkung völlig ineffektiv; viel wichtiger ist der Aufbau einer humanen, offenen, dialogischen Kommunikationsweise, die so entwickelt werden muß, daß Gesprächsbarrieren abgebaut, daß Konflikte zuerst offen angesprochen werden, damit sie überhaupt gelöst und nicht verdrängt werden, um dann bei anderer Gelegenheit wieder auf der Beziehungsebene zutage zu treten.

Erfahren habe ich immer wieder deutlich, wie sehr Mißverständnisse das Gesagte beim Gesprächspartner zu etwas völlig anderem werden lassen, als das eigentlich Gemeinte aus meiner Sicht beinhaltet.

Da hilft nur die kontinuierliche Kommunikationsentwicklung und ein Höchstmaß an Frustrationstoleranz, nicht zuletzt aber der Glaube daran, daß Menschen grundsätzlich ein hohes Motivationspotential mitbringen und bei gewährten Freiräumen so gut wie möglich einsetzen. Leidvoll ist für mich die Erfahrung von konkurrierenden Gruppen, die sich gegenseitig voneinander in einer Weise abgrenzen, daß ich mangelnde Toleranz und geringe Wertschätzung wahrnehme, die wir alle als Lehrerinnen und Lehrer bei den Schülerinnen und Schülern nicht akzeptieren würden und dürften, wenn wir unseren Erziehungsauftrag ernst nehmen. Anfangs hatte ich dabei so etwas wie Schuldgefühle, weil ich mich für diese Gruppendynamik verantwortlich fühlte im Sinne eines monokausalen Zusammenhangs. Erst durch eine Supervision meinerseits lernte ich, daß derlei Prozesse nicht unmittelbar etwas mit meiner Person zu tun hatten. Hierzu treffe ich mich regelmäßig mit ähnlich arbeitenden Schulleitern und stehe in engem persönlichem Kontakt mit einem Dozenten der Universität Eichstätt, der meinen Ansatz von der Anthropologie und Psychologie her wissenschaftlich begründet hat und im Austausch mit mir und anderen weiterentwickelt.

Dennoch leide ich unter stummen oder zynisch-ironischen Kollegen, die Gespräche für sinnlos halten und die Sache bereits diffamierend darstellen, bevor sie überhaupt versucht wurde. Allerdings ist dies eine Minderheit, die die positiven Ansätze nicht zerstören kann. Vor allem ist es wichtig, mutig zu bleiben und seine Vision nicht aus den Augen zu verlieren, sich die Sicherheit eines richtigen Wegs nicht durch die Steine beim Aufwärtsgehen nehmen zu lassen. Sysiphos war ein glücklicher Mensch, sagte Camus, weil er sich nicht durch negative Erfahrungen entmutigen ließ, den Stein immer wieder erneut nach oben zu rollen. Als Anstrengung dieser Art empfinde ich den Weg in die Schulentwicklung, allerdings mit dem Unterschied, daß der Stein nie mehr ganz nach unten rollt, sondern wir Stufe um Stufe erreichen können, wenn wir nur langsam und sorgfältig genug sind. Die Freude jedenfalls überwiegt.


Dr. Margret Ruep, Stiftstr. 20, Kraichgau-Realschule, 74889 Sinsheim