Erstpublikation in: Graef,R./Preller,R.-D.(Hg)(1994): Lernen durch Lehren, Rimbach: Verlag im Wald (240 S.) ISBN 3-929208-10-5
Der Artikel wurde für das Internet entsprechend angepasst (J.-P. Martin).


JEAN-POL MARTIN
(2002)

ZUR GESCHICHTE VON "LERNEN DURCH LEHREN"

 

In diesem Beitrag soll die Geschichte der Entwicklung und Verbreitung der Methode "Lernen durch Lehren" (LdL) beschrieben werden. Zunächst wird auf die Tradition des methodischen Ansatzes eingegangen. Im Anschluss wird erörtert, wie die Methode wissenschaftlich untermauert, zur Übernahme empfohlen und mit Hilfe eines Kontaktsystems verbreitet wurde.

 

1. Die Tradition

Die der Methode LdL zugrundeliegenden Prinzipien der Schüleraktivation und der Lernerautonomie wurzeln in der Reformpädagogik und haben eine lange Tradition. Unterrichtstechniken, die LdL-Charakter haben, sind beispielsweise vor dem ersten Weltkrieg in der Arbeitsschulbewegung um KERSCHENSTEINER (1914) zu finden, in den 30er Jahren im Rahmen des Projektunterrichts bei DEWEY/KILPATRICK (1935).

Im Gymnasialbereich wurden bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die reformpädagogischen Ansätze kaum rezipiert. Dies liegt an der philologischen Orientierung der Gymnasialausbildung, die in erster Linie die Dignität der Fächer im Auge hatte und sich wenig mit der Schülerperspektive befasste. Aufgrund ihrer mangelnden Vertrautheit mit dem reformpädagogischen Gedankengut waren die mit dem lehrerzentrierten Unterricht unzufriedenen Fremdsprachenlehrer genötigt, in periodischen Abständen immer wieder LdL-ähnliche Ansätze naiv in ihrem Unterrichtsalltag neu zu entdecken.

Der Name "Lernen durch Lehren" wurde zur Bezeichnung der Methode aufgegriffen, als die Leitungsgruppe des Projektes nach einer Formel suchte, die von der ursprünglichen, allzu personalisierten Benennung "Methode Martin" wegführen würde. Ursprünglich bezeichnete "Lernen durch Lehren" einen didaktischen Ansatz, der in den siebziger Jahren an einigen Universitäten erprobt wurde (FLECHSIG et al., 1978) und sich hauptsächlich auf den individuellen Lerneffekt bezog, den Tutoren durch ihre Lehrtätigkeit für sich selbst erzielten. Dieser methodische Ansatz unterscheidet sich also deutlich von der Methode "Lernen durch ehren", wie sie heute praktiziert wird, bei der nicht nur der Tutor, sondern die ganze Lerngruppe am Lehr-/Lernprozess beteiligt ist.

 

2. Die Perspektive des Verfassers

Nun möchte ich aus meiner Sicht beschreiben, wie ich zu dieser Methode kam, und was ich als meine spezifische Leistung betrachte. Den Boden für meine "LdL-Wiederneuentdeckung" bereitete die Mitarbeit an der Erstellung eines Französischlehrwerkes für die Erwachsenenbildung ("A bientôt 1, 1978, Klett-Verlag)"), im Zuge derer ich mich mit dem damals (1975-1978) neuesten Stand der Didaktik vertraut machte. Entscheidend für den weiteren Verlauf meiner Arbeit war die intensive Rezeption des kommunikativen Ansatzes, in Deutschland mit dem Namen PIEPHO verbunden. Nach meiner Referendarzeit und einer dreijährigen Tätigkeit als Studienrat für Französisch und Deutsch an einem fränkischen Gymnasium, bekam ich 1980 eine Didaktikstelle an der Universität Eichstätt. Um den Kontakt zur Praxis nicht zu verlieren, führte ich parallel zu meiner Arbeit an der Universität eine Klasse am nahegelegenen Willibald-Gymnasium. Damit waren für mich die Bedingungen geschaffen, sowohl theoretisch als auch praktisch den kommunikativen Ansatz weiterzuverfolgen. Kommunikativer Unterricht hieß damals, Situationen vorzugeben, in denen die Schüler sich sprachlich behaupten sollten. In diesem Kontext stieß ich auf SCHIFFLERS Buch "Interaktiver Fremdsprachenunterricht" (1980). Darin war im Zusammenhang mit der Beschreibung des Kommunikationsnetzes im Unterricht folgender Satz zu lesen:

"Auch bei Übungen im Lehrbuch, die nacheinander erledigt werden, ist es oft noch nicht üblich, dass die Schüler sich gegenseitig aufrufen" (S.98).

Ich fühlte mich betroffen, denn auch ich bestimmte, welcher Schüler welchen Übungssatz wann zu behandeln hatte. Sofort gestaltete ich die Phase der Übungsarbeit nach SCHIFFLERS Anregung um. Die Schüler stellten sich so gut auf dieses Verfahren ein, daß ich ihnen Schritt für Schritt weitere Aufgaben übertragen konnte, wie das Vorlesen eines Diktates, die Vorstellung einer kleinen Wortschatzmenge oder eines kleinen Textes. Allmählich entwickelten sich die Konturen eines "neuen" methodischen Ansatzes. Auch SCHIFFLER hatte beschrieben, dass man Schülern eine Reihe von Lehrfunktionen übertragen könne:

"Der Lehrer stellt das Lehrerbegleitbuch oder seine persönlichen Notizen zur Verfügung, die er sich zur ein- oder zweisprachigen Semantisierung der neuen Vokabeln gemacht hat. In dem Lehrerbuch sind meist Hinweise auf Tafelzeichnungen, eventuell benötigte Gegenstände, Filztafelelemente usw. einschließlich der Fragen, die zur Verdeutlichung des Verständnisses der neuen Vokabeln gestellt werden können, enthalten. Die Schüler verteilen ihre Aufgaben und bereiten getrennt oder gemeinsam die Einführung der neuen Lektion vor. Sie entscheiden selbst, ob sie zuerst die neuen Vokabeln semantisieren und anschreiben werden, um anschließend in verteilten Rollen die Lektion vorzutragen, oder ob sie die Semantisierung in die Vorstellung der neuen Lektion einflechten." (S.173)

Bei SCHIFFLER war sogar zu lesen, dass an einem Mädchengymnasium eine solche Einführung von einer 8.Klasse ein Jahr lang praktiziert worden war.

Voll im Handlungszusammenhang der Schule, begeistert durch die Fortschritte meiner Schüler, vergaß ich den von mir ohnehin verinnerlichten SCHIFFLER und arbeitete an dem eigenen Ansatz weiter.

a.      Ich bemühte mich, auf der Grundlage einer Untersuchung des Unterrichtsdiskurses den optimierende Charakter der Methode wissenschaftlich nachzuweisen und spracherwerbstheoretisch zu untermauern (MARTIN 1985).
Das Problem schien darin zu liegen, dass im Fremdsprachenunterricht Ziele verfolgt werden, die sich scheinbar gegenseitig ausschließen:
  
Der sprachdidaktische Zielkonflikt
Einerseits muß auf die Korrektheit der Sprache geachtet werden, und dies gelingt am besten über das Erlernen von Grammatik und durch Übersetzungen. Andererseits lernt man Sprachen beim Sprechen in authentischen Kommunikationszusammenhängen. Macht man viel Grammatik und übersetzt man viel, so wird wenig authentisch gesprochen. Spricht man viel, so besteht die Gefahr, daß die Sprache als korrekt zu erlernendes System aus dem Blick gerät.
  
Die Lösung des Dilemmas durch LdL: Wenn die Schüler die Lehrfunktionen übernehmen (also Vermittlung von Wortschatz und Grammatik), konzentriert sich ihre Aufmerksamkeit auf die Sprachkorrektheit und gleichzeitig vermehrt sich ihr authentischer Sprechanteil um ein Vielfaches.
  
Der lerntheoretische Zielkonflikt
Einerseits ist es günstig, wenn die Fremdsprache mit Hilfe kognitivierender Verfahren , wie sie in der Grammatik-Übersetzungsmethode praktiziert werden, als System erfasst wird.
Andererseits müssen die Sprachstrukturen habitualisiert werden, was am besten durch behavioristische Verfahren erreicht wird. Wird viel kognitiv gearbeitet, bleibt wenig Zeit zur Habitualisierung. Wird viel automatisiert, so leidet die kognitive Durchdringung des Stoffes. Die Lösung des Dilemmas durch LdL: Wenn die Schüler die Aufgabe bekommen, den Stoff vorzustellen, wird dieser Stoff kognitiv angegangen, aber auch durch die ständige Verbalisierung im Klassenraumdiskurs habitualisiert.
 

b.      Bei meinen Beschreibungen der Methode hob ich als entscheidender Punkt hervor, dass, um die Methode langfristig tragfähig zu machen, die didaktischen Kompetenzen der Schüler systematisch aufgebaut werden mussten. Dieser Aspekt war bisher nicht gesehen worden und wurde bei mir zu einem wichtigen Unterrichtsziel (MARTIN, 1986) 

c.       Es musste durch eine Langzeitstudie nachgewiesen werden, dass es sich nicht um eine "Eintagsfliege" handelte. Deshalb behielt ich die Klasse 7 Jahre lang und fing Jahr für Jahr den Fortschritt der Schüler mit der Unterstützung des FWU filmisch ein.  

d.      Um eine Einbettung des methodischen Ansatzes LdL in ein größeres didaktisch-pädagogisches Konzept zu leisten, musste ein Curriculum entwickelt werden, das über LdL hinaus alle Lernstufen von der 7.Klasse bis zum Abitur umfasste und eine landeskundliche und literarische Komponente einschloss (MARTIN 1994). 

e.       Schließlich musste nachgewiesen werden, dass der Ansatz auch von anderen Lehrern zu praktizieren sei, möglicherweise auch in anderen Fächern. Um wirklich attraktiv zu sein, musste auch gezeigt werden, dass LdL an der Regelschule anzuwenden sei.

Um diese Nachweise zu erbringen, war ich - in Ermangelung einer institutionellen Unterstützung - darauf angewiesen, im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen Kollegen anzusprechen, die bereit seien, die Methode selbst zu erproben. Im Juni 1987 traf sich bei mir in Ingolstadt eine Gruppe von 12 Kollegen, die sich vornahmen, den Ansatz zu testen und im Erfolgsfall bekannt zu machen.

Nach 15 Jahren kann eine sehr positive Bilanz gezogen werden:

·         In bezug auf die Übertragbarkeit wurde nachgewiesen, dass andere Lehrer die Methode erfolgreich praktizieren können und zwar nicht nur im Französischunterricht sondern in anderen sprachlichen und nichtsprachlichen Fächern.

·         Zur Verbreitung wurde ein Kontaktsystem aufgebaut, das seit der Etablierung des Internets hohe Effektivität erreicht hat. 

·         LdL ist an vielen Stellen institutionell verankert und erscheint in den Lehrplänen der meisten Bundesländer.

    

3. Die Weiterentwicklung

Wer die weitere Entwicklung des LdL-Projektes verfolgen will, muss die neuesten Einträge in der LdL-Homepage (www.ldl.de) - insbesondere unter „Aktuell“ - zur Kenntnis nehmen. Die Homepage enthält darüber hinaus alle seit 1985 entstandenen Materialien (Tagebucheinträge, Erfahrungsberichte, Referendararbeiten, Aufsätze) sowie eine Liste der Mitglieder des LdL-Kontaktnetzes. Schließlich führt die Homepage zu den LdL-Diskussionsforen, die von mir moderiert werden und intensive und nachhaltige Kommunikation ermöglichen.  

    

 

KURZBIBLIOGRAPHIE

Dewey,J; Kilpatrick,W.H.(1935): Der Projektplan. Grundlegung und Praxis. Weimar

Flechsig,K.-H.,Burfeind,H.,Schmidt,W.(1978): Erstfassung eines Katalogs didaktischer Modelle.Göttinger Monographien zur Unterrichtsforschung.Göttingen

Graef,R.(1990): "Lernen durch Lehren - Anfangsunterricht im Fach Französisch." In: Der Fremdsprachliche Unterricht, Nr.100, 10- 13

Kerschensteiner,G.(1914): Deutsche Schulerziehung in Krieg und Frieden. Leipzig

Martin, J.-P.(1982): Bedingungen für einen sozialintegrativen Fremdsprachenunterricht. In: Der Fremdsprachliche Unterricht, 61-64

Martin,J.-P.(1985): Zum Aufbau didaktischer Teilkompetenzen beim Schüler. Fremdsprachenunterricht auf der lerntheoretischen Basis des Informationsverarbeitungsansatzes.Tübingen: G.Narr

Martin,J.-P.(1986): Für eine Übernahme von Lehrfunktionen durch Schüler, in: Praxis des neusprachlichen Unterrichts, 395-403

Martin,J.-P.(1988): Schüler in komplexen Lernumwelten. Vorschlag eines kognitionspsychologisch fundierten Curriculums für den Fremdsprachenunterricht, in: Praxis des neusprachlichen Unterrichts, 294-302

Martin, J.-P.(1989): Kontaktnetz: ein Fortbildungskonzept, in: Eberhard Kleinschmidt,E.(Hrsg.), Fremdsprachenunterricht zwischen Fremdsprachenpolitik und Praxis: Festschrift für Herbert Christ zum 60. Geburtstag, Tübingen: G.Narr.

Martin,J.-P(1994): Entwurf eines anthropologisch begründeten Curriculums für den Fremdsprachenunterricht. Tübingen: G.Narr

Schiffler,L.(1980): Interaktiver Fremdsprachenunterricht. Stuttgart. Klett

 


Kontakt: Prof.Dr. Jean-Pol Martin Universität 85071 Eichstätt / jpm@ldl.de