LERNEN DURCH LEHREN
EIN WEG ZUM PARADIGMENWECHSEL
(Jean-Pol Martin, 20.11.95)
Gegenwärtig vollzieht sich ein Paradigmenwechsel, der alle Bereiche der Gesellschaft
erfaßt. Einer der Hauptfaktoren für diese Entwicklung kann in dem rasanten Fortschritt
bei der Datenverarbeitung, -speicherung und -vermittlung gesehen werden.Durch die
Digitalisierung werden die Produktionsprozesse in Industrie und Wirtschaft umgestaltet,
die Arbeitsplätze und die durch sie gestellten Anforderungen werden sich völlig
verändern. Nicht nur dieses: das gesamte Leben wird neugestaltet. Insgesamt kann man
davon ausgehen, daß die Menschen künftig wesentlich initiativer und autonomer werden
handeln müssen als es heute der Fall ist. Konnten sie sich früher im Beruf und im
Privatleben auf vorgefundene feste Regeln und Werte verlassen, waren sie also eingebettet
in stabilen Settings, so werden sie in Zukunft ihre Welt - die berufliche und die private
- selbst aktiv immere wieder neugestalten müssen. Natürlich sind solche Umwälzungen
historisch kein einmaliges Ereignis. Beim Übergang vom Mittelalter zur Renaissance fand
eine ähnliche Entwicklung statt, der Mensch trat aus klaren, stabilen, jahrhundertalten
Strukturen heraus, und mußte selbständig, als autonomes Subjekt eine neue Welt aufbauen.
Diese Situation stellt veränderte Anforderungen an die Schule. Der Unterricht muß neue
Lernziele ansteuern:
- die Schüler müssen lernen, relevante von irrelevanten Inhalten zu unterscheiden; der
Unterricht muß also inhaltsorientiert sein;
- sie müssen lernen, für sie besonders relevante Inhalte zu erkennen und selbständig zu
erarbeiten; der Unterricht muß also Differenzierung und autonomes Arbeiten
ermöglichen;
- sie müssen lernen, daß Wissenserwerb und Kompetenzentwicklung am besten in
Zusammenarbeit mit anderen erfolgt; der Unterricht muß also Kooperation fördern;
- sie müssen lernen, daß zu einer fruchtbaren Kooperation die Kommunikationsfähigkeit
eine wichtige Rolle spielt; der Unterricht muß intensive Kommunikation
einbeziehen;
- sie müssen lernen, daß eine kontinuierliche Reflexion über individuelle und
gemeinsame Lernprozesse zu deren Optimierung führt; der Unterricht muß die Metareflexion
als festen Bestandteil enthalten;
- sie müssen lernen, daß der Erwerb von neuem Wissen und von neuen Kompetenzen
voraussetzt, daß man immer wieder unbekannte Felder betritt, sich also immer neuen
Situationen aussetzt; der Unterricht muß exploratives Verhalten ermöglichen.
Die neuen Lernziele lassen sich nur mit Hilfe neuer Methoden erreichen.
Hatten bisher Lehrmodelle gute Dienste geleistet, die dem Schüler in überschaubarer Form
klar definierte und zeitüberdauernde Inhalte vermittelten, so muß die Schule heute
Lehrverfahren anwenden, die den Schüler zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Stoff
anregen. Bildung erfolgt nicht mehr als passive Aufnahme des Vorgefundenen, sondern in
aktiver Auseinandersetzung mit den von der Gesellschaft - in Gestalt des Lehrers und der
Lehrwerke - angebotenen Bildungsgütern. Dabei soll der Schüler sich seiner eigenen
Interessen in der Beschäftigung mit dem Stoff bewußt werden. Die Aufgabe des Lehrers ist
es, einen reichhaltigen Stoff bereitzuhalten, und die Begegnung des Schülers mit den
Inhalten so produktiv wie möglich zu gestalten.
Dem Lehrer stellen sich also folgende Fragen:
- Welche Inhalte sind für die Gegenwart und die Zunkunft des Schülers relevant?
- Welches Unterrichtsarrangement kann am besten gewährleisten, daß die Begegnung des
Schülers mit dem Stoff produktiv wird und daß er dabei die Schlüsselqualifikationen
erwirbt, die als globales Ziel von Unterricht und Schule gelten?
Auf die Inhalte kann in diesem Vorspann nicht eingegangen werden. Methodisch läßt
sich der Paradigmenwechsel mit der Methode "Lernen durch Lehren" vollziehen.
Lernen durch Lehren
Wenn die Schüler die Aufgabe bekommen, den im Lehrwerk verdichteten Stoff
arbeitsteilig selbstständig zu erschließen, didaktisch aufzubereiten und ihren
Mitschülern zur vermitteln, so entspricht dieses Vorgehen den Anforderung des oben
beschriebenen modernen Unterrichts:
- Bei ihrer Vorbereitung auf die Präsentation der Lehrwerkinhalte lernen die Schüler, Wichtiges
von Unwichtigen zu unterscheiden;
- da sie arbeitsteilig verfahren, wählen die einzelnen Schüler die Inhalte aus, die sie
besonders ansprechen (Differenzierung) und nehmen die Didaktisierung selbst vor (Autonomie);
- da die Präsentation der verschiedenen Abschnitte stets in Zweierschaft und nach einer
gemeinsamen Vorbesprechung erfolgt, lernen die Schüler kooperatives Arbeiten;
- da sowohl die Vorbereitungsphase als auch die Plenumsphase eine Vielzahl von
Interaktionen verlangt, erwerben die Schüler in besonderem Maße kommunikative
Kompetenzen;
- da sie sich im Zusammenhang mit der Vermittlung des Stoffes an ihre Mitschüler mit dem
Erwerb von Wissen befassen, wird ihr Handeln kontinuierlich von Metareflexion
begeleitet;
- da die Schüler sich immer wieder mit einem unbekannten Stoff mit nur geringer
Unterstützung auseinandersetzen müssen, da sie sich ferner immer neuen sozialen
Konstellationen im Klassenzimmer aussetzen, wird ein exploratives Verhalten
kontinuierlich gefördert.
Es ist Konsens in den mit Unterricht befaßten Wissenschaften, daß ein moderner
Unterricht schüleraktivierend und handlungsorientiert sein sollte. Ferner wir von den
gesellschaftlichen Instanzen gefordert, daß in der Schule Schlüsselqualifikationen
vermittelt werden, wie Selbstbewußtsein, Kreativität und die Fähigkeit, sich immer
wieder auf neue Situationen einzustellen. Daß die Methode Lernen durch Lehren
diesen Anforderungen in besonderem Maße entspricht, ist selbst bei oberflächlicher
Betrachung offenkundig.
Veränderungen im Studium und in der Schulorganisation
Die Veränderung der Lernziele verlangt, daß die Lehrer auf die neuen Aufgaben
vorbereitet werden. Wenn eine ihrer vornehmlichen Aufgabe darin besteht, bei ihren
Schülern Schlüsselqualifikationen aufzubauen, dann müssen sie selbst die Möglichkeit
bekommen, im Studium diese Schlüsselqualifikationen zu erwerben.
Während ihrer Zeit als Studenten müssen sie also
- lernen, relevante von irrelevanten Inhalten zu unterscheiden;
- lernen, für sie besonders relevante Inhalte zu erkennen und selbständig zu
erarbeiten;
- lernen, daß Wissenserwerb und Kompetenzentwicklung am besten in Zusammenarbeit mit
anderen erfolgt;
- lernen, daß zu einer fruchtbaren Kooperation die Kommunikationsfähigkeit eine
wichtige Rolle spielt;
- lernen, daß eine kontinuierliche Metareflexion über individuelle und gemeinsame
Lernprozesse zu deren Optimierung führt;
- lernen, daß der Erwerb von neuem Wissen und von neuen Kompetenzen voraussetzt, daß man
immer wieder unbekannte Felder betritt, sich also explorativ verhält.
Dies setzt Veränderungen an der Universität voraus, auf die an dieser Stelle nicht
eigegangen werden kann.
Die Veränderung der Lernziele verlangt aber auch, daß organisatorische
Veränderungen in den Schulen vorgenommen werden. In unserem Kontaktnetz ist auf
diesem Gebiet MARGARETE RUEP, Rektorin der Realschule in Sinsheim (80 Lehrer, 800
Schüler) führend. Sie ist erreichbar unter folgender Anschrift:
DR.MARGARETE RUEP, Rektorin der Realschule Sinsheim (Baden-Württemberg, Adresse
privat: Marktplatz 5, 76669 Bad Schönborn, Tel: 07253/31514
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