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Jean-Pol Martin

"Lernen durch Lehren" - eine Unterrichtsmethode zur Vorbereitung auf die Arbeitswelt

Die kommunikationstechnologische Revolution und die Globalisierung der Märkte haben Umwälzungen ausgelöst, die alle Bereiche der Gesellschaft erfassen (Geissler/Orthey 1998). Auch das Erziehungssystem sieht sich einem starken Innovationsdruck ausgesetzt. Die einzelnen Schulen bekommen mehr Autonomie, sie sollen ein eigenes Profil entwickeln und, in Anlehnung an die Arbeitswelt, die Struktur von lernenden Organisationen annehmen (Schratz/Steiner-Löffler 1998); der Unterricht soll effektiver gestaltet werden, die Schüler sollen selbständiger lernen. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass offene, schüleraktivierende Unterrichtsmethoden wie "Lernen durch Lehren" (LdL) mehr Beachtung in der öffentlichen Diskussion finden. Im folgenden wird die Methode LdL in ihren Grundzügen vorgestellt und es wird aufgezeigt, warum sie besonders geeignet ist, Schüler auf die Herausforderungen der Berufswelt vorzubereiten.

 

1. "Lernen durch Lehren" in Grundzügen

Die Methode "Lernen durch Lehren", wie sie heute in der Öffentlichkeit bekannt ist, wurde am Anfang der 80er Jahre im Französischunterricht entwickelt. Kerngedanke ist, dass Lehrfunktionen auf die Schüler übertragen werden, so dass ihre Aktivität im Unterricht gesteigert wird. Für den Fremdsprachenunterricht ist dabei besonders wichtig, dass der Sprechanteil der Lerner deutlich erhöht wird. Nun ist die Methode nicht nur aus fachspezifischer Sicht von Vorteil, sondern sie zeigt auch positive Auswirkungen auf die Motivation, das Selbstbewußtsein, die Teamfähigkeit und die Problemlösekompetenz der Schüler (Martin 1994). Darüber hinaus hat sich im Rahmen eines umfangreichen Projektes erwiesen, dass LdL auf andere Fächer wie Deutsch, Geschichte, Religion, und auf die naturwissenschaftlichen Disziplinen übertragbar ist (Graef/Preller 1994, Martin 1996). Wie aber funktioniert die Methode konkret? Wie soll ein Lehrer verfahren, der LdL in seinem Unterricht anwenden will?

Folgende Schritte sind zu empfehlen:

  • Zur Einführung wird Schülern eine einfache Lehraufgabe übertragen, wie z.B. die Korrektur der Hausaufgaben oder das Vorlesen eines Diktates. Am Anfang muss der Lehrer ein regelrechtes Training durchführen, indem er die Schüler daran gewöhnt, freundlich miteinander umzugehen, sich zuzuhören, deutlich zu sprechen, auf die Qualität der Beiträge zu achten usw.

  • Nach einer Eingewöhnungsphase von einer bis zwei Wochen werden die Schüler an anspruchsvollere Aufgaben herangeführt, wie die Vorstellung eines neuen Textes oder eines Grammatikkapitels. Die Vorbereitung auf die Präsentationen erfolgt in Teamarbeit, nicht zu Hause sondern im Unterricht, in einer dafür vorgesehenen Phase (etwa 20 Minuten). Während der anschließenden Schülerdarbietungen bleibt der Lehrer im Hintergrund und interveniert nur, wenn die Kommunikation zwischen den Schülern nicht zufriedenstellend verläuft, wenn Fehler auftreten oder wenn Ergänzungen notwendig sind.

  • Schrittweise werden immer umfangreichere Stoffmengen zur Präsentation und Einübung an die Schüler abgegeben. Auch die Erstellung von Übungsblättern kann auf sie übertragen werden.

  • Mit zunehmender Kompetenz bekommen die Lerner immer komplexere Aufgaben, wie die Leitung von Diskussionen, die Durchführung von Textinterpretationen oder von selbsterstellten thematischen Einheiten (Martin/Kelchner 1998).

  • Parallel zum stoffbezogenen Unterricht findet eine kontinuierliche Prozessevaluation und Methodenreflexion statt.

 

2. Die Forderungen der modernen Arbeitswelt: Schlüsselqualifikationen

Die Globalisierung und die entsprechenden Veränderungen in der Berufswelt werden vom Arbeitnehmer der Zukunft eine hohe Flexibilität und lebenslanges Lernen verlangen. Um die Schüler auf diese Situation vorzubereiten, muss das Erziehungssystem entsprechende Fähigkeiten vermitteln. Die Fachliteratur benutzt dafür den Begriff der Schlüsselqualifikationen und versteht darunter folgende Eigenschaften (vgl. Kinkel, 1997, 108ff):

  • die Fähigkeit, in komplexen Zusammenhängen zu denken;

  • Teamfähigkeit und Einfühlungsvermögen;

  • Kommunikationsfähigkeit: Präsentationstechniken, Moderationstechniken;

  • Selbstbewußtsein;

  • Durchsetzungskraft und die Fähigkeit, andere Menschen einzubinden und für gemeinsameZiele zu begeistern.

Aus der Kurzbeschreibung der Methode "Lernen durch Lehren" erhellt, dass die genannten Schlüsselqualifikationen durch LdL vermittelt werden:

  • die Präsentation des neuen Stoffes verlangt von den Schülern, dass sie sich zunächst einen Überblick verschaffen, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden und die relevanten Stoffteile auswählen; somit wird die Fähigkeit geübt, in komplexen Zusammenhängen zu denken und die Stoffkomplexität im Hinblick auf die Vermittlung zu reduzieren;

  • bei der Vorbereitung auf die Präsentation in Partnerarbeit wird die Teamfähigkeit gefördert, sowie das Einfühlungsvermögen;

  • bei der Vorstellung des Stoffes werden Präsentationstechniken eingeübt, es wird die Kommunikationsfähigkeit gefördert;

  • schließlich wird das Selbstbewusstsein bei den zahlreichen Präsentationen vor der Klasse gefördert, sowie die Fähigkeit, eine größere Gruppe zu motivieren.

 

Exploratives Verhalten und Problemlösefähigkeit

Über die oben genannten Qualifikationen hinaus wird vom Erziehungssystem erwartet, dass beim Schüler eine explorative Haltung aufgebaut wird. Darunter versteht man die Bereitschaft von Menschen, sich in Situationen zu begeben, die ein hohes Maß an Unbestimmtheiten enthalten. Nach Dörner et al. (1983) besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem explorativen Verhalten eines Menschen und seiner Problemlösefähigkeit. Die logische Kette lässt sich folgendermaßen beschreiben: explorative Menschen suchen Felder auf, mit denen sie nicht vertraut sind, und versuchen, sich in diesen Feldern problemlösend zu behaupten. Jede auf diese Weise gewonnene Erfahrung wird zu einem abstrakten, kognitiven Schema verarbeitet. Je mehr Erfahrungen, desto mehr Schemata, desto breiter die kognitive Landkarte. Eine breite kognitive Landkarte sichert Kontrolle über mehr Bereiche, sie ermöglicht eine schnellere Verarbeitung neuer Eindrücke und schützt vor emotionalen Einbrüchen. Sie sichert, dass neue Situationen erfolgreich bewältigt werden. Das Gefühl der Kontrolle festigt sich, das Selbstbewusstsein wächst und dadurch die Bereitschaft, unbekannte Bereiche anzugehen, also sich erneut explorativ zu verhalten. Durch exploratives Verhalten wird also eine positive, dynamische Spirale in Gang gesetzt, die zu einer größeren Problemlösefähigkeit, Lebenskompetenz und Kontrolle auf seiten des Individuums führt. Aus dieser Logik heraus lässt sich als ein Hauptziel jedes didaktischen Konzeptes die systematische Vermittlung einer explorativen Haltung begründen. Der Einsatz der Methode LdL begünstigt diesen Prozess dadurch, dass die Schüler sich routinemäßig in die Unbestimmtheit und Komplexität des neuen Stoffes begeben, um nach entsprechender Komplexitätsreduktion die neuen Inhalte ihren Mitschülern zu vermitteln.

 

3. Erhöhung der Kontrollkompetenz durch LdL

In der Psychologie wird die Kontrolle als zentrale Dimension menschlichen Erlebens betrachtet (Flammer, 1990). Sie vermittelt der handelnden Person das Gefühl, dass sie das Handlungsfeld "im Griff" hat und auftretende Schwierigkeiten meistern kann. Nach Dörner führt exploratives Verhalten zu einer Vermehrung der Kontrolle, da immer mehr Bereiche aufgesucht und kognitiv beherrscht werden. Durch die Übernahme von Lehrfunktionen im Unterricht wird die Kontrollkompetenz der Lerner von Anfang an aufgebaut. So erwerben sie von der ersten Stunde an die Grundtechniken, die eine schülergeleitete, erfolgreiche inhaltsbezogene Kommunikation erlauben. Sehr bald setzt auch ein Metadiskurs ein, der die Selbstreflexion und die damit einhergehende Selbstkontrolle, auch über eigene Lernprozesse, erhöht. Im Laufe der Zeit und mit zunehmendem Alter werden Inhalte vermittelt, die selbst eine große Erklärungskraft besitzen und als Instrumente zur kognitiven Kontrolle der Welt dienlich sind. Dazu gehören anthropologische Kenntnisse, die eine vertiefte Selbst- und Fremdreflexion erleichtern, dazu gehört ein Basiswissen, das zeitüberdauernd sein soll, wie z.B. Kenntnisse über Geschichte und Geographie.

Flow-Effekt

Grundsätzlich lässt sich nur dann ein exploratives Verhalten aufbauen, wenn die damit verbundenen Handlungen einen Belohnungswert besitzen. Was kann Schüler bewegen, ihre Angst zu überwinden und neue Felder zu betreten, beispielsweise Vorträge vor der Klasse oder vor einem unbekannten Publikum zu halten? In Untersuchungen über intrinsische Motivation wurde ein Phänomen herausgearbeitet, der eine große Erklärungskraft besitzt. Es handelt sich um den Flow-Effekt, wonach gewisse Aktivitäten ein hohes Potential an intrinsischer Befriedigung enthalten (Csikszentmihalyi, 1979). Das Erlebnis selbst wird "als einheitliches Fließen beschrieben, ein Fließen von einem Augenblick zum anderen, wobei eine Verschmelzung von Handlung und Bewußtsein geschieht, ein völliges Aufgehen in der Aktivität bis zur Selbstvergessenheit, ohne aber die Kontrolle über die Aktivität zu verlieren." (Bischoff, 1998).

Die Bedingungen, die zum Hervorbringen solcher Gefühle erfüllt werden müssen, sind folgende (Bischoff, 1998):

  • die Nähe zu kreativem Entdecken und Explorieren: etwas Neues entwerfen oder entdecken, einen unbekannten Ort oder Bereich erkunden

  • ein Problem lösen, Anforderungen bewältigen, Schwierigkeiten lösen

  • Erfahrungen machen, deren Ausgang offen ist und der vom Ausübenden bestimmt werden kann

  • Hinausgehen über das Erreichte und Bekannte, ein Gefühl der Selbstentgrenzung erleben

  • ein Gefühl der Kontrolle über die Handlung und die Umwelt

  • das Ausschöpfen der Fähigkeiten, persönliches Können

  • klare Handlungsanforderungen und eindeutige Rückmeldungen über die Handlung.

Die Methode LdL ist ganz darauf abgestimmt, Flow-Erlebnisse auszulösen. Besonders wichtig ist, dass der Ablauf der Präsentationen genau geplant wird, damit die Schüler die Kontrolle über den Präsentationsablauf nie verlieren. Nur so kann Kontrollgefühl aufkommen und das entsprechende Flow-Erlebnis auftreten. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Qualität des Flow-Erlebnisses in direktem Bezug zur Qualität der angewandten Präsentationstechniken und der vorgestellten Inhalte steht. Daher konzentriert sich die Reflexion in einem nach LdL geführten Unterricht auf die Frage, welches Wissen für die Gegenwart und die Zukunft der Schüler relevant ist. Das Wissen soll zeitüberdauernd sein, es soll Strukturen sichtbar machen und die Einordnung relevanter Details in größere Wissenszusammenhänge ermöglichen; dazu gehören Grunddaten der Weltgeschichte, insbesondere solche, die sich am Schnittpunkt unterschiedlicher Wissensbereiche befinden. Dies trifft beispielsweise zu für Überblicke über die Entwicklung der Kultur von den Assyrern über die Perser, die Ägypter, die Griechen, die Römer bis zum heutigen Europa. Ohne Grundkenntnisse in diesem Bereich lässt sich kein Kunstmuseum der Welt mit Gewinn besuchen.

 

4. Perspektiven

Bei der kurzen Beschreibung des LdL-Modells konnten nur einige Aspekte des didaktischen Konzeptes aufgezeigt werden. Gegenwärtig wird im LdL-Projekt versucht, Elemente der Berufswelt immer stärker in den Unterricht einzubeziehen, beispielsweise indem die Schüler im Unterricht Wissensbausteine und didaktische Einheiten entwickeln, die sie dem Umfeld anbieten im Austausch mit anderen Klassen oder im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen. Auf diese Weise entwickelt sich die Klasse zu einem Dienstleistungsbetrieb, der immer stärker auf die Qualität, insbesondere die Aktualität der behandelte Inhalte achten muss. Die Organisation der Klasse als Betrieb orientiert sich wiederum am Modell der "lernenden Organisation". Ein besonderes Ziel in diesem Zusammenhang ist, dass die Schüler lernen, ihre Fähigkeiten nach aussen adäquat zu präsentieren. Ein Übungsfeld bietet die im Internet eingerichtete Klassenhomepage. Einblicke in das gesamte LdL-Projekt bekommt man durch den Besuch der LdL-Homepage: www.ldl.de

 

Bibliographie

Bischoff, Claudia (1998): Motivation: Mythos - Märchen - Wirklichkeit. Mitarbeiter müssen motiviert werden - oder?, In: Zeitschrift PflegePädagogik, Ausgabe 1/1998
Csikszentmihaly, Mihaly (1979): The concept of flow. In: Sutton-Smith, B. (Ed.): Play and learning. New-York: Gardner, 254-274
Dörner, Dietrich, et al. (Hrsg.) (1983): Lohhausen. Vom Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität. Bern: Huber.
Flammer, August.(1990). Erfahrung der eigenen Wirksamkeit. Bern: Huber
Geissler, Karlheinz A./Orthey, Frank M.(1998): Der große Zwang zur kleinen Freiheit: berufliche Bildung im Modernisierungsprozess. Stuttgart: Hirzel.
Graef, Roland/Preller, Rolf-Dieter (Hrsg.) (1994): Lernen durch Lehren. Rimbach: Verlag im Wald.
Kinkel, Ansgar (1997): "Qualifikationen fürs Berufsleben. Wie trainiert man Soft Skills?", In: v.Landsberg, Georg (Hrsg.) (1997): Karriere-Führer Hochschulen. Informationsmarkt für Studenten und Unternehmen. 21. Ausgabe, II/1997. Köln: Schirmer Verlag, 108-111
Lirsch, Manfred/Martin, Jean-Pol (Hrsg.) (seit 1996): LdL-Homepage. URL: www.ldl.de
Martin, Jean-Pol (1994): Vorschlag eines anthropologisch begründeten Curriculums für den Fremdsprachenunterricht. Tübingen: G.Narr
Martin, Jean-Pol (1996): "Das Projekt `Lernen durch Lehren´ - eine vorläufige Bilanz." In: Henrici,Gert & Zöfgen, Ekkehard (Hrsg.) (1996): Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLUL).: Band 25. Themenschwerpunkt: Innovativ-alternative Methoden, Tübingen: Gunter Narr, 70-86 (auch in: Lirsch,M./Martin,J.-P. seit 1996)
Martin, Jean-Pol (1997): "Prozeßinduzierende Inhalte", In: Wendt,Michael/Zidatiß,Wolfgang (Hrsg.), Fremdsprachliches Handeln im Spannungsfeld von Prozeß und Inhalt. Bochum, Brockmeyer, 82-89 (auch in Lirsch,M./Martin,J.-P. seit 1996)
Martin,Jean-Pol/Kelchner, Rudolf (1998): "Lernen durch Lehren", In: Timm, J.-P. (Hrsg.) Englisch lernen und lehren. Didaktik des Englischunterrichts. Berlin: Cornelsen, 211-219
Schratz, Michael/Steiner-Löffler, Ulrike (1998): Die lernende Schule. Arbeitsbuch pädagogische Schulentwicklung. Weinheim und Basel: Beltz