"Ethik der Lehrenden - Identität der Lernenden" - Vortrag gehalten am
18.06.1998 an der Universität Köln

Jean-Pol Martin (28.06.98)


Eintrag 10

Den folgenden Vortrag habe ich einzig und allein für meinen Auftritt in Koeln am 18.06.1998 verfasst. Ich wurde von meinem Freund Paul Geyer eingeladen und war bemüht, so präzise wie möglich über die Entwicklung meiner Wertreflexion seit 50 Jahren zu berichten. Gegenwärtig prägen die Systemtheorie, der Netzwerkgedanke und die Gehirnmetapher meine Weltsicht.

Diesen Vortrag werde ich nicht veröffentlichen, möchte ihn aber interessierten Lesern zugänglich machen. Deshalb biete ich ihn als Tagebucheintrag zur Lektüre an.
(Dieser Text ist auch als Winword-Datei abrufbar: koeln.doc)

 Das Projekt "Lernen durch Lehren":
Ethik der Lehrenden - Identität der Lernenden

 

Meine Damen und Herren,

die Ethik, die Sittenlehre also, sucht nach einer Antwort auf die Frage: was sollen wir tun? In meinem Vortrag werde ich mich bemühen, der Frage "was sollen wir tun"? aus der Sicht des Didaktikers nachzugehen.

1.

Alle Prognosen weisen darauf hin, dass die allgemeine Instabilität, die insbesondere durch die Verbreitung der neuen Kommunikationsmittel und dem damit verbundenen Prozess der Globalisierung eingetreten ist, noch zunehmen wird. Das bedeutet, dass der einzelne noch größere Schwierigkeiten haben wird als bisher, so etwas wie eine feste Identität aufzubauen und zu bewahren, denn er wird immer schnellere Anpassungsleistungen zu erbringen haben, um sich auf neue Bedingungen der Umwelt einzustellen. Anpassungsleistungen bedeutet, dass Elemente dessen, was man als unverrückbarer Bestandteil der eigenen Persönlichkeit empfindet - wie z.B. politische Überzeugungen -, auf einmal hinfällig werden, weil die Umwelt plötzlich die entsprechenden Kategorisierungen nicht mehr zulässt. Ich denke beispielsweise an die Einteilung zwischen Rechts und Links, die seit der französischen Revolution gute Dienste leistete und heute gehobenen Ansprüchen nicht mehr genügt. Dass diese Erscheinung alle Lebensbereiche erfasst, wird allgemein festgestellt, beispielsweise vom Wirtschaftswissenschaftler Karlheinz Geissler - ich zitiere: "Anders als früher gibt es heute im Leben des Menschen kaum noch Kontinuität. Beruf, Partner, Wohnort und Qualifikation sind keine festen Eckpfeiler mehr. Immer häufiger ist das Leben durch Übergänge, Brüche und Zäsuren geprägt." - Ende des Zitats - Auch wenn Vergleiche mit der Vergangenheit immer fragwürdig sind, weil sie der Gefahr der Rückidealisierung unterliegen, so ist es unbestritten, dass wir uns in einer Umbruchzeit befinden, die vom einzelnen andere Strategien verlangt als beispielsweise in meiner Generation. Diese These möchte ich zumindest an einem Fall veranschaulichen, und erlaube mir, aus der eigenen Biographie zu schöpfen. Als junger Mensch hatte ich die Wahl zwischen etwa zehn Berufen, wie dem eines Offiziers, eines Architekten, eines Arztes, eines Ingenieurs, eines Anwaltes. Bezüglich des Privatlebens gab es auch hier wenig Auswahl: man heiratete ein Mädchen, das Jungfrau sein sollte, bekam Kinder und blieb ein Leben lang mit derselben Partnerin. Geschiedene wurden gesellschaftlich ausgegrenzt, ledige Mütter ganz ausgeschlossen. Homosexuelle, sofern sie überhaupt erwähnt wurden, waren verdorbene Menschen, Afrikaner waren in ihrer Mehrheit dumm, Araber, faul, Asiaten zwar intelligent aber listig und wie alle anderen Farbige minderwertig. Ich sage bewußt "waren", denn es bestand kein Zweifel an diesen Vorstellungen und man lebte gut damit.

2.

Mit dieser Beschreibung habe ich das Wertesystem offenbart, das ich aus meinem Elternhaus vermittelt bekommen hatte. Diese Werte fanden ihren politischen Ausdruck in der Einteilung zwischen Rechts und Links. Die Rechten traten für den Erhalt der Familie ein, gegen den Verfall der Sitten, gegen die Überfremdung, für die Pflege der Tradition und die Verteidigung des Vaterlandes und waren somit gut. Links standen vorwiegend vaterlandslose jüdische Intellektuelle im Bündnis mit der ungebildeten, verrohten Arbeiterklasse.

Gut und Böse, Links und Rechts. Das sind also die Metaphern, die Orientierung in meinem ersten Lebensabschnitt geboten und mir geholfen haben, meinen Alltag kognitiv zu kontrollieren. Bitte distanzieren Sie sich nicht süffisant an dieser Stelle. Sind Sie sicher, dass Sie selbst über ein viel differenzierteres Weltdeutungssystem verfügen? Viele Menschen begnügen sich nämlich mit der Unterscheidung gut/böse, dringen nicht einmal bis zur Unterscheidung rechts/links vor und kommen trotzdem perfekt im Leben zurecht. Fragt sich nur, in welcher Art von Leben, in welcher Art von Umwelt. Meine These ist, dass die Menschheit zwar Jahrhunderte lang mit einem Wertesystem ausgekommen ist, das etwa dem entspricht, das ich gerade beschrieben habe, aber dass angesichts der gewaltigen Veränderungen, die gegenwärtig vollzogen werden, wir auf deutlich komplexere, ausgeklügeltere Wertesysteme angewiesen sind.

Damit bin ich zu meinem Thema gelangt: ich möchte mit Ihnen überlegen, welche Deutungs- und Wertesysteme ich heute als Didaktiker meinen Schülern und Studenten anbieten kann, die sowohl Erklärungen für erlebte Vergangenheit als auch präskriptive Kraft für die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft enthalten. Am günstigsten ist es, wenn ich den begonnenen biographischen Rückblick fortsetze und mir in Erinnerung rufe, welche weitere Entwicklung mein eigenes Sinnsystem erfahren hat. Die erste kritische Auseinandersetzung mit tradierten Werten erfolgte als ich mit 14 Jahren an der Existenz Gottes zu zweifeln begann. In der Folge wurde in mir das vom Christentum empfohlene altruistische Modell durch einen unreflektierten, zynischen Pragmatismus ersetzt, der mich zehn Jahre lang irreführte, bis ich während meines Studiums in Nanterre - der Universität von der aus die Mai-Unruhen in Frankreich ausgingen - 1968 die Ereignisse miterleben durfte, die für viele Menschen meiner Generation noch bis heute prägend sind. 68 brachte für uns die Entdeckung des Marxismus und löste eine intensive Wertreflexion aus. Das marxistische Angebot kam deshalb bei der damaligen Jugend gut an, weil es die von der Religion her vertrauten, aber in der Praxis vernachlässigten Werte der Nächstenliebe und der Aufopferung für die Gemeinschaft wiederaufnahm, aber ohne die für uns obsolete transzendentale Begründung. Meist führte diese Reflexion zu einer völligen Umkehrung der Werte: das Gute und das Böse waren nach wie vor klar trennbar, nur dass die Vorzeichen über Nacht gewechselt hatten: Afrikaner, Araber, Kommunisten waren plötzlich ausnahmslos gute Menschen, schlecht war ab sofort der Direktor der Firma, in welcher mein Vater arbeitete. Die neue Lehre war radikaler als die christliche, denn während das Christentum noch Bewährungsräume für den Sünder vorsah, gab es für den bösen Kapitalisten keine Rettung. Im Laufe der Jahre wurde das sozialistische Wertesystem ausdifferenzierter, es duldete immer mehr Sonderfälle und Ausnahmen und integrierte immer zahlreichere Varianten. Für mich bildete es die Folie meiner Handlungen und Reflexionen bis zum Anfang der achtziger Jahre, bis ich auf die Systemtheorie stieß. Über die Schriften von Friedrich Vester wurde mir der Vernetzungsgedanke und das ökologische Prinzip vertraut. Gut ist, was ein harmonisches Zusammenleben aller Teilnehmer des gesamten Ökosystems, seien es Menschen, Tiere oder Pflanzen ermöglicht. Alles hängt mit allem zusammen, Veränderungen an einer Stelle des Systems haben Auswirkungen auf die gesamte Struktur. Jeder Einzelteil ist etwas besonderes und wichtig, enthält Ressourcen, die im Sinne der Gesamtheit genutzt werden können. Die politische Konsequenz war für mich eine Distanzierung von hierarchischen Modellen und hierarchisch organisierten Parteien, wie z.B. der SPD, und eine Hinwendung zu basisdemokratischen Strukturen, die dem vernetzten, ökologischen Prinzip entsprechen. Heute eröffnen sich durch die kommunikationstechnologische Revolution gerade im Hinblick auf Meinungsbildung und Entscheidungsfindung völlig neue Perspektiven.

Das Ziel bleibt die Verbesserung der Lebensbedingungen aller, die Vermehrung des Glücks einer möglichst großen Anzahl von Lebewesen. Um dieses Ziel zu erreichen scheint ein Weg darin zu bestehen, mehr Intelligenzressourcen zu mobilisieren als dies bisher möglich war. Als Organisationsstruktur scheint das Modell neuronaler Netze geeignet zu sein. Wenn man die einzelnen Menschen mit Neuronen gleichsetzt, und wenn diese einzelnen Menschen dank der neuen Kommunikationstechnologien in intensiver Interaktion treten, dann kann die daraus entstehende Struktur mit einem Makrohirn verglichen werden. Dieses Makrohirn, dessen realer Ort im Internet zu suchen ist, dürfte mehr als einzelne Menschen in der Lage sein, die anstehenden Weltprobleme zu lösen. Es kommt darauf an, sowohl die einzelnen Neuronen als auch die Verbindungen zwischen diesen Neuronen, also die Architektur des Makrohirns zu optimieren.

3.

Wenn ich die oben entwickelte Metapher weiterführe, so besteht meine Aufgabe als Lehrer darin, die Qualität der einzelnen Neuronen zu optimieren. Konkret bedeutet es, dass ich die potentiellen individuellen und sozialen Ressourcen der einzelnen Schüler erkenne und dass ich helfe, diese zur Entfaltung zu bringen. Der einzelne soll fester, stabiler, kompetenter werden, und diese Kompetenzen durch verbesserte Organisations- und Kommunikationsstrukturen in das gesamte System einbringen können. Ethisch lässt sich dieses Ziel dadurch rechtfertigen, dass sowohl der einzelne Mensch als auch die Gemeinschaft von einer solchen Neuorganisation mehr Problemlösekompetenz und Wohlbefinden, also Glück zu erwarten hat.

Wie geht das?

In den folgenden Ausführungen werde ich vor allem beschreiben, wie der Lehrer zum Ausbau eines positiven, stabilen Selbst beim Schüler beitragen kann. Über das Selbst sagt der amerikanische Philosoph und Bewußtseinsforscher Daniel Povinelli folgendes: "Nicht die Innenschau eines meditativen Geistes ist der Kern des Selbst-Bewußtseins, der bildet sich vielmehr aus Aktivität, Handlung, Bewegung. Das Wesentliche am Ich-Gefühl ist das Wissen, Aktor in einer Szenerie zu sein, das Wissen, dass man etwas bewirken kann in der Welt."

Wenn man diese Hypothese in den didaktischen Kontext überträgt mit dem Ziel, die Identitätsfindung und -festigung der Schüler zu begünstigen, dann sollen die Schüler in die Lage versetzt werden, erfolgreich in für sie relevanten, anspruchsvollen Lebenswelten zu handeln.

Dazu gibt es für den Lehrer zwei Interventionsebenen. Zum einen soll der Schüler mit Schlüsselqualifikationen ausgestattet werden, wie der Teamfähigkeit, dem explorativen Verhalten, der Fähikgeit, Sachverhalte klar vor einem größerem Publikum darzustellen, Kompetenzen, die ihn zur aktiven Gestaltung seines unmittelbaren Handlungsraums machen. Zum anderen sollen ihm Metapher vermittelt werden, die ihm eine schnelle Orientierung ermöglichen, sowohl bei der Reflexion seiner selbst, als auch bei der Analyse der Welt. Damit meine ich just die Kategorien, zu deren Entwicklung und Erprobung ich selbst Jahrzehnte gebraucht habe.

Es sind über die bereits genannte Systemtheorie hinaus auch psychologische Erklärungsmuster wie beispielsweise die Pyramide der Grundbedürfnisse von Maslow oder eine Gegenüberstellung antinomischer Tendenzen, die ich selbst entwickelt und den Schülern als Instrumente angeboten habe. Zur Einübung dieser Kategorien werden Projekte durchgeführt, wie vor kurzem eine Frankreichrundfahrt, die ich mit einem Bus und 30 Schülern der 11.Klasse während der Pfingstferien durchgeführt habe. Da die Schüler alle Aktivitäten selbst übernommen haben, von der Organisation der einzelnen Tage bis zum Kartenlesen während der Fahrt und der Verteilung der Zimmer in den Jugendherbergen, und dies nach basisdemokratischen Prinzipien gestalteten, gab es für sie kontinuierlich Anlässe, über die menschliche Natur und die Optimierung von Organisationsstrukturen nachzudenken. In diesem Zusammenhang konnten sie die Brauchbarkeit der von mir angebotenen Metaphern prüfen.

Und nun bekommen Sie die Möglichkeit, im Gespräch mit meinen Schülern zu klären, inwieweit diese Denkinstrumente tatsächlich eine Hilfe bei der Interpretation ihres Alltages darstellen.

 

AN DIESER STELLE: SCHÜLER BESPRECHEN MIT DEN ANWESENDEN DAS VON MIR VERFASSTE, BEILIEGENDE BLATT (40 minuten)

 

EINIGE THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN IM ANSCHLUSS AN UNSERE FRANKREICHREISE Martin (12.06.98)

Im Anschluss an unsere Reise sind mir ein paar Gedanken gekommen, die ich euch vorstellen möchte:

 

1. Vorbemerkungen: Zunächst stelle ich fest, dass alle meine Annahmen bestätigt wurden. Die Schüler der 11.Klasse (ihr, aber auch alle anderen) sind so weit, dass jeder Lehrer, wenn er nicht über gute Techniken verfügt, überfordert ist. Tatsächlich gibt es kein Fach, in dem mindestens ein Schüler aus der Klasse dem Lehrer nicht überlegen wäre: in eurer Klasse sind mir praktisch alle überlegen in Musik, in Sport, in Mathematik, Physik, Geographie, Biologie, Englisch, usw. Selbst in den Gebieten, in denen ich mich gut auskenne (Geschichte und Literatur), gibt es Leute, die mir tendenziell überlegen sind (Joseph in Geschichte und Bernd und Markus H. in der Erstellung literarischer Texte). Meine Überlegenheit beruht lediglich auf der Tatsache, dass ich viel älter bin und deshalb über mehr Erfahrung verfüge, also über mehr abstrakte Schemata (kognitive Landkarte) und über mehr Distanz. Ich sehe vor allem Strukturen, und erst dann die Menschen.

Das führt oft zu Missverständnissen. Wenn ich ein konkretes Beispiel benutze, meinen die Leute oft, dass ich über sie spreche, während ich nur ein Beispiel liefere, damit jeder versteht was ich meine (z.B. die Kissenschlacht im Bus als Beispiel für Regression). Da ich über mehr Distanz verfüge, kann ich besser unterscheiden zwischen dem, was wichtig ist, und dem, was nebensächlich ist (wenn die Jugendherberge schmutzig ist, seid ihr nicht bedroht! Wenn ich eine alte Krabbe in den Mund stecke, bin ich nicht in Gefahr. Aber wenn der Fahrer schlecht geschlafen hat und schlechte Laune hat, kann es wichtige Auswirkungen auf die Reise haben).

 

2. Einige Begriffe

2.1 Chaos und Ordnung (Elemente der Systemtheorie):

Wenn man eine Struktur, eine Ordnung aufgebaut hat, die funktioniert, will man sie natürlich behalten. Man will vor allem nicht das Risiko eingehen, bei der Suche nach einer anderen Ordnung dem Chaos zu begegnen. Dies betrifft auch einfache Strukturen, wie beispielsweise die Familie: Vater, Mutter, zwei Kinder. Wenn die Kinder groß werden, muss man die Strukturen änderen, aber meist wollen die Eltern an den bestehenden Strukturen festhalten. Wenn eine Veränderung unabdingbar geworden ist (ein Kind heiratet), versucht man die neue Struktur so nah wie möglich an der bestehenden zu halten (das Kind sollte jemanden heiraten, der den anderen Familienmitgliedern ganz ähnlich ist, d.h. möglichst aus Bayern, aus derselben sozialen Schicht, katholisch...) Aber die Neugestaltung der Struktur ist immer eine Notwendigkeit, weil alle Bestandteile der Struktur sich kontinuierlich verändern: in einer Familie werden die Eltern alt, die Kinder wachsen, die Großeltern sterben, usw. In einer Gesellschaft verändern sich die Produktionsmittel, die Bevölkerung wächst oder sie nimmt ab, die Technologie macht Fortschritte, etc. DIE STRUKTUREN ZU OPTIMIEREN IST ALSO EINE NOTWENDIGKEIT!

Nun enthält jede Neugestaltung ein Risiko, denn sie geht über eine Phase des Chaos, die auch zu einer Regression des Systems führen kann (z.B. das dritte Reich, der Kommunismus im Osten), oder einen Fortschritt (beispielsweise die Machtübernahme in Beaugency und deren Auswirkungen auf unsere Reise). Ausserdem enthält jede Reorganisation eine Phase des Chaos, die man aushalten muss, ohne die Geduld zu verlieren und mit Optimismus (in Beaugency wären einige Schüler gerne zur traditionellen Struktur zurückgekehrt, mit klarer Führung des Lehrers)!

In welchem Maße trifft diese Beschreibung auch auf den Globalisierungsprozess zu, in dem wir uns gerade befinden? (6. Kondratjev)

2.2 Kommunikation (die Gehirnmetapher)

In der Reorganisationsphase, in der wir uns befinden (Globalisierung), sind die intellektuellen Ressourcen aller unabdingbar. In meinem Unterricht, während der Frankreichreise, innerhalb meines LdL-Netzes richte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf den Aubau von Strukuren, die uns ermöglichen, alle Ressourcen auszuschöpfen, die in jedem stecken.Deshalb spielt das Konzept der "Andockbarkeit" eine große Rolle in meinem Modell. Um ein einziges Beispiel zu nennen: während der Reise war Claudius stets "andockbar" und konnte der Gemeinschaft ein Maximum an Ressourcen bieten. (...)

 

DEUTUNGSKATEGORIEN

1. Lebenserhaltung und Kontrolle als Determinante des Handelns

 

2. Grundbedürfnisse (nach Maslow)

  • Physiologische Bedürfnisse (Hunger, Durst, Schlaf, Sexualität)

  • Sicherheitsbedürfnis

  • Liebe und Zugehörigkeit

  • Soziale Anerkennung

  • Selbstverwirklichung

  • Transzendenz

 

3. Gegensatzpaare als Instrumente kognitiver Kontrolle

Chaos / Ordnung

Unbestimmtheit / Klarheit

Komplexität / Einfachheit

Differenzierung / Integration

Individuum / Gesellschaft

Freiheit / Zwang

Konkretion / Abstraktion

Emotion / Kognition

 

4. Merkmale erfolgreicher Problemlöser

  • Exploratives Verhalten

  • Reichhaltige kognitive Landkarte

  • Selbstsicherheit

  • Exploratives Verhalten

  • usw.

 

 

METAPHERN

- Gut/Böse

- Links/Rechts

- Systemtheorie - Ökologische Perspektive - Neuronale Netze - Welthirn im Internet

 

4.

Der Aufbau von Schlüsselqualifikationen, die Vermittlung von Metaphern - insbesondere von Wertorientierungen und das Angebot von anspruchsvollen Handlungsfeldern, das sind die Aufgaben, die dem Lehrer in dem von mir dargestellten Modell zufallen. Dies alles soll zum Aufbau einer stabilen Identität des Schülers beitragen. Voraussetzung ist, dass der Lehrer selbst klare Wertorientierungen und Stabilität vorlebt.

Abschließend, möchte ich noch einige Bemerkungen über das Wertesystem in der Wissenschaft und deren Tugendbegriff erlauben. In der Wissenschaft werden hohe ethische Maßtäbe postuliert: alle Anstrengungen sollen der Suche nach der Wahrheit gelten. Ich komme nicht umhin zur fragen, welche Strategien für eine wissenschaftliche Karriere günstig sind und ob diese Strategien mit der Suche nach der Wahrheit kompatibel sind. Bei der Wahl eines Forschungsgegenstandes beispielsweise würde das Ziel der Wahrheitsfindung bedeuten, dass aus einem inneren Drang heraus ein Thema bearbeitet wird, von dem man sich neue, für die Gesellschaft bedeutsame Erkenntnisse verspricht. Realiter erfolgt die Wahl eines Themas vielfach danach, ob es in ein Förderprogramm hineinpasst und die Themafrage Aussichten auf die Gewährung von Drittmitteln eröffnet und insgesamt günstig für den weiteren Verlauf der Karriere erscheint. Gestern war die Postmoderne Trumpf. Heute wirkt sie altmodisch. Dafür haben Themen Konjunktur, die sich der Frauenproblematik, den Minderheiten und kulturellen Randgruppen, aber auch dem Interkulturellen und der europäischen Integration widmen. Dabei entspricht es dem Ethos des Wissenschaftlers, dass er ein Werk hinterlässt, das Bestand hat und auch nach Jahrzehnten rezipiert wird. In zwanzig Jahren wird sicherlich das letzte frauenspezifische Thema aus allen Richtungen ausgeleuchtet sein und jeder wird erkannt haben, dass der Konstruktivismus kaum neue Erkenntnisse zu den von Piaget augearbeiteten Modellen hinzufügt. Welchen Eindruck werden die Leser dann gewinnen, wenn sie erkennen, dass ein von ihnen geachteter Forscher die Suche nach der Wahrheit der Suche nach einem Lehrstuhl untergeordnet hat? Die Bearbeitung von Modethemen ist karrieretechnisch clever, aber Wissenschaft verlangt weit mehr als Cleverness, Wissenschaft ist zutiefst ethisch geleitet, sie ist eine Passion. Wissenschaft verlangt Sorgfalt, Gründlichkeit, Ausdauer. Diese Eigenschaften vertragen sich schlecht mit der im Wissenschaftsbetrieb herrschenden Formel "publish or perrish". Ein aus wissenschaftlicher Sicht lohnendes Thema will wie ein Kind behandelt und nach langer Gestation ausgetragen werden. Zwei, vielleicht drei derartige Kinder können in einem Forscherleben auf die Welt gebracht werden. Natürlich gilt meine Kritik nicht dem einzelnen Forscher sondern der Struktur des Wissenschaftsbetriebes insgesamt, weil sie dem schnellen Wechsel von Themen, von Wirkungsorten, von Mitarbeitern, von Studenten und Schülern Vorschub leistet. Die Struktur des Wissenschaftsbetriebes fördert die Instabilität. Sie verhindert tendenziell ethisches Handeln verstanden als Zuverlässigkeit und Kontinuität.

Dennoch besteht für jeden Wissenschaftler die Möglichkeit, sich dieser Geschäftigkeit zu entziehen und kontrastiv zur allgemeinen Turbulenz feste Positionen aufzubauen, sich als stabiler Anker für Kollegen und Studenten anzubieten: zur Orientierung, zur Auseinandersetzung, zur Präzisierung der eigenen Identität. Ethik der Lehrenden - Identität der Lernenden.

 


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