Reflexionen über Fragen der Forschung
Jean-Pol Martin (05.06.99)


Eintrag 13

  1. Zur Einordnung meiner Arbeit im wissenschaftlichen Diskurs

In einer Zeit heftiger Umbrüche eröffnen sich plötzlich Perspektiven, die mit der Entdeckung der Neuen Welt durch Columbus vergleichbar sind. Im Bereich der Wissenschaft tun sich unermessliche Forschungsfelder auf, die nicht mehr in den engen Grenzen der einzelnen Fächer erforscht werden können. Bezogen auf meine Arbeit bedeutet es, dass meine neuen Erkenntnisse schon lange nicht mehr der Französischdidaktik oder der Fremdsprachendidaktik allein zuzuordnen sind, sondern tief in andere wissenschaftliche Disziplinen hineinreichen. Es sind mindestens:

  • Die Gehirnforschung:
    Was ist das Ich aus kognitionspsychologischer Sicht? - Wie können die einzelnen Teilnehmer des Projektes so miteinander verbunden werden, dass sie wie Neuronen im Organismus funktionieren und ein Makrodenken hervorbringen? - Wie kann die LdL-Homepage an die Gehirnarchitektur angenähert werden?

  • Die Individualpsychologie:
    Durch welche Maßnahmen wird die Entwicklung eines stabilen, positiven Selbstwertgefühls beim Einzelnen unterstützt?

  • Die Organisationspsychologie:
    Durch welche Organisationsstrukturen lassen sich alle Ressourcen einer Gruppe zielbezogen ausschöpfen?

  • Die Betriebspsychologie:
    Wie können Mitglieder einer Gruppe motiviert werden, qualitativ hochstehende Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln und der Umwelt anzubieten?

  • Die Kommunikationsforschung:
    Wie kann dafür gesorgt werden, dass intendierte Mitteilungen sowohl zwischen Einzelpersonen als auch in Klein- oder Großgruppen ohne Reibungsverluste realisiert werden?

Der Bezug zur Französischdidaktik bleibt dadurch erhalten, dass ich meine Forschung ganz und gar auf die Empirie meiner Arbeit im Leistungskurs Französisch stütze. In diesem Unterricht entstehen Innovationen, die im Nachhinein theoretisch beleuchtet und untermauert werden, oder es werden im Unterricht die Hypothesen geprüft, die bei der theoretischen Reflexion entstanden sind.

Dass meine Arbeit sich nicht in eine Einzeldisziplin einordnen lässt, sondern eine ganze Reihe von Wissenschaften berührt, hat folgende Auswirkungen:

  • Eine positive Auswirkung ist, dass sie für Abnehmer aus ganz unterschiedlichen Bereichen interessant ist. Beispielsweise wird demnächst eine Delegation aus der Ausbildungsabteilung des Bundesgrenzschutzes (BGS) meinen Unterricht besuchen; desweiteren bahnt sich eine Kooperation mit dem Leiter eines europäischen Projektes zur beruflichen Weiterqualifikation in Segovia (Spanien) an.

  • Eine negative Auswirkung ist, dass meine Forschung im Rahmen der institutionalisierten Einzelwissenschaften (Fremdsprachendidaktik, Pädagogik, Psychologie) kaum rezipiert wird, weil diese Einzeldisziplinen sich hauptsächlich mit den Projekten befassen, die in ihren jeweiligen Rahmen entstehen. So beschäftigt sich die Französischdidaktik logischerweise in erster Linie mit den Themen, die von etablierten, d.h. in Zeitschriften und Kongressen präsenten Französischdidaktikern bevorzugt werden. Da aus meiner Sicht neue Erkenntnisse im engeren Kontext der Französischdidaktik nicht zügig genug aufgegriffen und umgesetzt werden, ziehe ich es vor, die Abnehmer - also die Lehrer - im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen oder über die LdL-Homepage direkt anzusprechen.

  1. Zum Aufbau eines positiven Selbstbildes bei Schülern, Studenten und Lehrern: Einige Überlegungen anlässlich meiner jüngsten Parisreise (vgl. Tagebucheintrag Nr.20)

  1. Die Voraussetzungen:
      
    Auf der Reise sollten folgende Strukturen zum Aufbau positiver Selbstkognitionen bei Studenten und Schülern beitragen:

  • Die Aufgaben waren anspruchsvoll aber so verteilt, dass jeder Teilnehmer ihr gewachsen sein musste: die Schüler mussten Informationen für ihre Facharbeiten sammeln, insbesondere Interviews durchführen; die Studenten hatten jeweils zwei Schüler zu betreuen mit dem Auftrag, sie bei auftretenden Schwierigkeiten zu unterstützen.

  • Da die meisten Schüler keine festen Interviewtermine hatten, da ferner das Personal aller Pariser Museen im Streik stand, gab es genug Hindernisse zu überwinden. Auf diese Weise konnten die Schüler bis an die Grenze ihrer Kompetenzen gehen und die Studenten kamen in die Lage, sich voll für den Erfolg des Projektes der Schüler einzusetzen, für die sie verantwortlich waren.
       

  1. Konkrete Beispiele für den Aufbau positiver Selbstkognitionen:
       
    Grundsätzlich waren die Eingangsvoraussetzungen unterschiedlich sowohl für die Studenten als auch für die Schüler. Einige Studenten waren mit Paris sehr vertraut, andere weniger, einige Schüler fühlten sich sprachlich sicher und gut vorbereitet auf die Aufgabe, die sie in Paris erwartete (sie hatten z.B. einen Interviewpartner), andere hatten kaum Ansatzpunkte für ihre Arbeit. Relevant für die Frage des Aufbaus positiver Selbstkognitionen scheinen mir folgende Beobachtungen:

  • Eine Studentin wurde ganz besonders gefordert, weil das Museum, über das die betreute Schülerin eine Facharbeit verfassen wollte, geschlossen war und es kaum Möglichkeiten zu geben schien, doch ein Interview zu bekommen. So kämpften die beiden drei Tage äusserst hartnäckig, bis am Ende doch ein ausführliches Interview erreicht werden konnte. Die Schülerin war sehr erleichtert. Man kann davon ausgehen, dass dieses Erlebnis für beide ein Gefühl von Kompetenz entstehen ließ und dass die mit diesem Ereignis verbundenen Erinnerungen besonders positiv assoziert sein werden. Insbesondere kann vermutet werden, dass die emotionale Beziehung zwischen der Schülerin und der Studentin durch das gemeinsame Kämpfen intensiv war und in der Erinnerung intensiv bleiben wird. Ähnliche Beobachtungen konnten auch bei den anderen Teams gesammelt werden.

  • Besonders interessant in diesem Zusammenhang sind die Auswirkungen des Coachings auf den Coach: die Übernahme der Verantwortung bewirkte eine Identifikation der Studenten sowohl mit der Thematik der Facharbeiten als auch mit den Schülern selbst. Als "Obercoach" befasse ich mich gedanklich kontinuierlich mit den Erfolgen meiner Schüler und Studenten und trete in Resonanz mit ihnen. Wenn das Projekt als anspruchsvoll empfunden wird, wenn zahlreiche Hindernisse überwunden werden müssen und die Recherchen erfolgreich verlaufen, dann kann man davon ausgehen, dass alle Elemente, die mit diesem Erfolg assoziert werden, eine positive Wertung bekommen: das Thema der Facharbeit, der Ort an dem die Recherchen durchgeführt wurden, der betreute Schüler bzw. für den Schüler der betreuende Student, die Stadt und alle Aktivitäten, die im Zusammenhang mit der Parisreise unternommen wurden. Aus fachdidaktischer Sicht bietet sich also hier eine aussergewöhnliche Chance, das Fach Französisch in der Identität der Schüler positiv zu verankern. (Schade, dass dieser Text wahrscheinlich von Französischdidaktikern nicht gelesen wird!)

  • Um die positiven Schwingungen, die durch die Parisreise ausgelöst wurden, zu erhalten und zu verstärken, wird den Schülern die Möglichkeit eröffnet, ihre Ergebnisse als didaktische Einheiten in der Klasse und bald vor größerem Publikum zu präsentieren.

  • Wenn - wie es hier der Fall war - eine Studentin bereits als Schülerin ein Thema als Facharbeit bearbeitet und didaktisiert vor größerem Publikum vorgestellt hatte, und wenn diese Studentin einige Jahre später eine Schülerin erfolgreich unterstützt, die über dasselbe Thema eine Arbeit verfasst, dann ergibt sich bei der Studentin eine Verdoppelung der positiven Konnotationen mit dem Thema, mit dem Parisprojekt und mit dem Fach insgesamt.

 

Ein Schwerpunkt meiner künftigen Anstrengungen wird darin liegen, den eingeleiteten Prozess der Produktion anspruchsvoller, fachgebundener Produkte durch die Schüler im Französischunterricht voranzutreiben. Jedes von Schülern erstellte Produkt soll als Baustein zur Stabilisierung eines positiven Selbstbildes dienen.


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