Reflexionen über Fragen der Forschung
Jean-Pol Martin (09.02.97)
Eintrag 5
(Die Seite "Forschung" hat für mich den Vorteil, dass ich wirklich das
schreiben kann, was mich gerade wissenschaftlich beschäftigt, ohne mich mit
"Übersetzungsproblemen" herumschlagen zu müssen! Ich kann munter darauflos
schreiben und muss mich nicht um eine verständliche Terminologie kümmern!)
Expertensystem und Homepage-Architektur
Im Augenblick befasse ich mich besonders intensiv mit
Kognitionswissenschaften und Gehirnforschung. Immer deutlicher sehe ich, dass die Homepage
als Expertensystem eine Architektur bekommen muss, die sich an der Architektur des Gehirns
orientiert. Expertensystem bedeutet, dass die Homepage die Aufgabe hat, mein (unser)
Expertenwissen für User transparent und benutzbar zu machen. Gegenwärtig übernimmt
Manfred Lirsch die Funktion des Wissensingenieurs (zu diesen Fragen vgl: Puppe, F.
"Expertensystem", In: G.Strube (Hrsg.)(1996), Wörterbuch der
Kognitionswissenschaft, Stuttgart: Klett-Cotta, S.169-180).
Konkret liegt das Problem darin, dass immer mehr Menschen
am LdL-Projekt beteiligt sind, sei es als Anwender (also Lehrer), sei es als User, so wie
meine Schüler oder die Schülereltern, die dank der Homepage immer mehr eingebunden
werden. Die Erfahrungen all dieser Interessenten wird als Wissen eingebracht und dieses
Wissen muss so geordnet werden, das es wiederum für viele verfügbar und nutzbar wird.
Die Beschäftigung mit dem Gehirn hat den Vorteil, dass man an ihm ablesen kann, wie es
Informationen so ordnet, dass diese für den Organismus nützlich sind.
Das Feedback eines Vaters
Die Feedbacks, die ich auf mein Tagebuch bisher bekommen
habe, sind nicht sehr zahlreich, aber sie besitzen Qualität:
Nachdem ich den Schülern von der Homepage berichtet hatte
und ihnen empfahl, mein Tagebuch mit Überlegungen über die Arbeit in ihrer Klasse zu
lesen, bekam ich am nächsten Tag folgende Mail:
Von: 100065.1033@CompuServe.COM (Theodor Thirmeyer)
Betreff: LdL Tagebuch
Gesendet am: b .7 2.:11:34 EST
Abgeholt am: 04.02.97 21:01
Charlotte NC, Febr. 3, 1997
Hallo Herr Martin
Heute habe ich von meinem Sohn (Stephan Thirmeyer -
einer aus Ihrer 7. Klasse) erfahren, dass Sie ein Tagebuch über Ihren
Französischunterricht führen, das im Internet abrufbar ist. Dabei habe ich mir auch Ihre
Didaktischen Briefe I - III angesehen. Der Inhalt hat mich an meine Schulzeit (vor ca. 30
Jahren) erinnert. Ich hatte damals einen Mathematiklehrer, der immer gute Tips auf Lager
hatte. Einer davon war: "Am meisten lernt man fur sich selbst, wenn man jemanden
etwas erklärt". Ihre LdL-Methode erinnert mich sehr stark an diese Weisheit.
Ich bin zwar kein Pädagoge, finde es aber sehr toll,
wie Sie in Ihren Tagebucheinträgen die Hintergründe Ihres Handelns sehr anschaulich
erläutern. Ich kann Sie in Ihrer Unterrichtsgestaltung nur bestärken. Gruppenarbeiten
und Präsentationen vor einem Plenum war zu meiner Schulzeit noch sehr die Ausnahme. Doch
gerade das wird im Berufsleben später verlangt. Je früher man damit beginnt, umso
selbstverständlicher wird es später.
Es war interessant, auf diese Art und Weise Kontakt
aufzunehmen. Ich freue mich, Sie bei nächsten Elternsprechtag mal persönlich
kennenzulernen.
Mit freundlichen Grüssen
Theodor Thirmeyer
PS: Ich warte schon gespannt auf Ihren nächsten
Tagebucheintrag.
Die Mail kam also aus den USA, wo Herr Thirmeyer z.Zt.
beruflich unterwegs ist. Besonders interessant aus meiner Sicht als
"Wissenschaftler" ist Folgendes:
- Verbesserungen von unterrichtlichen und
wissenschaftlichen Dienstleistungen können sehr stark beschleunigt werden, wenn die
Abnehmer (Schüler, Eltern, Studenten) die Möglichkeit bekommen, Einblick in die
Absichten der Anbieter (Lehrer, Forscher) problemlos und schnell zu gewinnen und Einfluss
auf diese Dienstleistungen ebenfalls problemlos zu üben.
- Konflikte zwischen Anbietern von
Dienstleistungen (Lehrern, Forschern) und Abnehmern können dadurch entschärft werden,
dass mehr Transparenz herrscht und Konflikte, die auf Unterstellungen und
Missverständnissen beruhen, im Vorfeld vermieden werden.
- Schließlich sehe ich in Feedbacks wie dem von Herrn
Thirmeyer einen für mich sehr wichtigen empirischen Beleg, dass die von uns
praktizierte Methode eine adäquate Vorbereitung auf die berufliche Welt darstellt.
(Nebenbei sei Forschern empfohlen, die historische
Arbeiten über die Entwicklung von Unterrichtsmethoden verfassen, das Wissen über
Methoden auszuschöpfen, das viele Nicht-Pädagogen besitzen und bisher wenig
Beachtung gefunden hat. In diesem konkreten Fall denke ich an die von Herrn Thirmeyer
berichtete Erfahrung im Fach Mathematik vor 30 Jahren!)
Die Verbreitung der LdL-Innovation aus systemtheoretischer Sicht
Sehr früh, also vor etwa 15 Jahren habe ich mich mit
Luhmann und der Systemtheorie befasst. Gleichzeitig nahm ich die Arbeiten von F.Vester
über den Vernetzungsgedanken wahr. Aus der Systemtheorie erfuhr ich, dass Systeme, wenn
sie am Leben bleiben wollen, stets die richtige Mischung von Integration und
Differenzierung aufrechterhalten müssen. Ferner war mir klar, dass, damit ein System in
Resonanz (in Schwingung) geraten kann, immer wieder Impulse notwendig sind, wobei des
Feld, in dem diese Impulse eintreffen, nicht zu groß sein darf. Auf Eichstätt bezogen
heißt es, dass die Universität klein genug war, um irgendwann auf die von mir
regelmäßig eingebrachten Impulse zu reagieren. Die Tatsache, dass ich im Mittelbau
wirkte, also in einer hierarchisch inferioren Position, erschwerte die Wahrnehmung meiner
Arbeit durch die Umwelt erheblich, aber nicht hoffnungslos. Diese Beschreibung trifft auch
auf Bayern zu. Dieses Bundesland ist groß genug, um einen auf lange Sicht dankbaren
Resonanzboden zu liefern, aber wiederum nicht so groß, dass Impulse sich darin völlig
verlieren würden.
Gegenwärtig scheint es, dass Bayern in Bezug auf unsere
Anstrengungen in Resonanz/Schwingung gerät. Hier nur zwei Beispiele:
- Nachdem die Landeselternvereinigung sich unserer Sache
angenommen hat, werde ich von Elternbeiräten landesweit eingeladen. Diese Treffen sind
oft sehr gut besucht: zu dem bevorstehenden Auftritt in Coburg haben sich 200 Leute
angemeldet.
- Es scheint, dass allmählich die Medien auf LdL kommen.
Beispielsweise filmt das bayerische Fernsehen am nächsten Mittwoch meinen Unterricht in
der 7.Klasse für die Jugendsendung "Live aus dem Schlachthof" (Ausstrahlung
Donnerstag, den 13. Februar um 20.15 auf Bayern III). Im Studio wird der Minister
Zehetmaier sein.
Interessant aus systemtheoretischer Sicht ist natürlich
auch, dass die Homepage bundesweit regelmäßig von zahlreichen Universitäten besucht
wird. Hier handelt es sich um ein relativ geschlossenes System (die kleine Gruppe der
internetkompetenten Unileute mit Interesse für Didaktik und Pädagogik), das ebenfalls in
Resonanz geraten dürfte. Ansonsten gibt es nach wie vor bundesweit zahlreiche
LdL-Aktivitäten, z.B. Regionaltreffen. Aber die bundesweite Bühne ist noch zu groß, als
dass unsere Impulse das System in Schwingung bringen könnte. Dazu wären überregionale
Medien notwendig!
|