Reflexionen über Fragen der Forschung
Jean-Pol Martin (19.04.97)


Eintrag 6

Antwort auf die Fragen eines Wissenschaftlers

 

In der Fachliteratur wird LdL entweder durch Anwender beschrieben (vgl. z.B. Rudolf Kelchner in PRAXIS 2/94, Michael Meyer in PRAXIS 2/97) oder bei der Beschreibung von Unterrichtstechniken erwähnt (wie z.B. durch Ludger Schiffler oder Michael Legutke) aber es wird selten kritisch auf die Methode eingegangen. Vor Kurzem ist ein Artikel von Gerald Schlemminger erschienen, mit dem Titel: "Ganzheitliche Methoden: ihr Stellenwert im Fremdsprachenunterricht", in: Meißner, Franz-Joseph (Hrsg.)(1997): Interaktiver Fremdsprachenunterricht - Wege zu authentischer Kommunikation. Festschrift für Ludger Schiffler zum 60.Geburtstag. Tübingen: Narr, 235 - 251. In diesem Aufsatz wirft Schlemminger - selbst ein herausragender Exponent der Freinet-Bewegung - eine ganze Reihe von sehr wichtigen Fragen auf, die die Diskussion um "alternative" Methoden voranbringen dürften. Aus seinem Artikel habe ich eine Stelle herausgegriffen, die sich auf LdL bezieht und auf die ich hier eingehen möchte:

 

"Pädagogisch fragwürdiger wird die Klassen- und Lernsituation, wenn Schüler Teile der Lehrerrolle übernehmen sollen. Ohne sofort an die klassischen Manipulationsmechanismen zu denken, die ein solches Vorgehen hervorrufen können, läßt sich fragen, welche pädagogischen Illusionen der Lehrer damit bei sich und den Schülern aufbaut. Denn welche Kompetenzen werden delegiert? Was bedeutet diese Delegation? Ist sie nur formal oder erhält der Schüler damit auch real den Handlungs- und Entscheidungsspielraum des Lehrers? Ist diese Kompetenzübertragung verhandlungsfähig? Wo wird sie verhandelt? Nach welchen Kriterien erfolgt diese Übertragung? usw. Ohne eine solide gruppendynamische Erfahrung des Lehrers droht die Lehrer-Schüler-Beziehung, sich von einer objektvermittelten zu einer dualen, tendenziell symbiotischen zu entwickeln." (Schlemminger, op.c., 246)

 

Schlemmingers Bedenken halte ich für berechtigt, weil die LdL-Methode die Gefahr solcher Fehlentwicklungen tatsächlich birgt. Andererseits enthält jede Methode spezifische Gefahren. Wichtig ist, dass man diese erkennt und deshalb sind kritische Auseinandersetzungen mit didaktischen Ansätzen so unabdingbar. Nun zu den Fragen selbst:

 

  • Welche pädagogische Illusionen baut der Lehrer bei sich und bei den Schülern auf?

 

Die Aufgaben, die an die Schüler delegiert werden, sind überschaubar und leicht zu bewältigen, vorausgesetzt, dass ein entsprechendes Training durchgeführt wurde. Im Laufe der Zeit kann immer mehr Verantwortung an die Schüler übertragen werden, wie z.B. die Entscheidung über Sozialformen bei bestimmten Aufgabenstellungen. Aber es bleibt jedem Teilnehmer im Unterricht klar, dass die Gesamtverantwortung in der Hand des Lehrers liegt. Jeder weiss, dass ohne seine Steuerung, der Unterricht zum Scheitern verurteilt wäre. Insofern wird keine Illusion aufgebaut, weder auf Seiten der Schüler, noch auf Seiten des Lehrers. Es findet lediglich eine neue Verteilung der Aufgaben statt, die von der Sache geboten wird und meist unpathetisch verläuft.
 

  • Welche Kompetenzen werden delegiert? Ist die Delegation nur formal oder erhält der Schüler damit auch real den Handlungs- und Entscheidungsspielraum des Lehrers? Ist diese Kompetenz verhandlungsfähig? Wo wird sie verhandelt?

 

Delegiert werden die Kompetenzen, die auf Grund der methodischen und fachlichen Entwicklung der Schüler in der gerade vorfindlichen Situation delegierbar sind. Der Schüler erhält den Spielraum, den er gerade in der Lage ist, zur Befriedigung aller zu füllen. Verhandelt wird implizit ununterbrochen: die Schüler drängen sich danach, Aufgaben zu bekommen, zu deren Erfüllung sie sich gewachsen fühlen; andere Aufgaben lehnen sie ab. Auch während der Ausführung eines Auftrages wird implizit verhandelt. Konkret sieht es so aus, dass, wenn ein Schüler z.B. Schwierigkeiten hat, vor der Klasse einen Stoff darzustellen, der Lehrer ihm zu Hilfe kommt, oder, wenn es zu umständlich wird, der Lehrer gleich selbst den Stoff zu Ende erklärt. Wenn der Stoff von der Klasse verstanden wurde, gibt der Lehrer die Initiative an den Schüler wieder ab und dieser kann weitermachen, usw. Gelegentlich passiert es, dass der Lehrer selbst bei einer Erklärung passen muss. Dann kommen ihm eben die Schüler spontan zur Hilfe.

 

Die Frage, ob eine "duale, tendenziell symbiotische Beziehung" entsteht, betrifft jede Form von gelungener Zusammenarbeit. Sie stellt sich nicht akuter bei LdL als bei anderen Unterrichtsverfahren, nicht einmal beim lehrerzentrierten Unterricht (wie oft hört man, dass bestimmte Lehrerpersönlichkeiten von ihren Schülern "verehrt" werden). Man kann sogar vermuten, dass bei LdL die Gefahr einer solchen Symbiose geringer ist, denn bei LdL sind die Schüler sehr stark mit sich und ihren Unterrichtsaktivitäten beschäftigt und haben wenig Zeit und Muße, sich mit der Person des Lehrers zu befassen.


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