Reflexionen über Fragen der Forschung
Jean-Pol Martin (31.05.98)


Eintrag 9

Eintrag 9

Leiden, Denken, Innovieren

Immer schon war ich mit Bertolt Brecht der Ansicht, dass der Mensch "ohne Not nicht denkt".

Wenn man die wichtigste Aufgabe des Forschers darin sieht, denkend Problemlösungen zu erarbeiten, dann muss er sich selbst in die Notsituation begeben, um dort den nötigen Leidensdruck zu erfahren, der ihn zum Denken zwingt. Für den Fremdsprachendidaktiker bedeutet es, dass er unterrichtet. Auch in diesem Jahr stellte mich meine 11.Klasse vor Probleme, die ich mit erheblichem Denkaufwand lösen musste. Natürlich bietet diese Vorstellung von Wissenschaft eine gute Rationalisierungsmöglichkeit. So kann ich die unzähligen Misserfolge, die ich auf der Ebene der Institution erleide (13 erfolglose Bewerbungen auf Professuren, ausbleibende Unterstützung innerhalb meiner Universität aufgrund meines untergeordneten Status’ usw.) als Voraussetzung für meine Erfolge ausserhalb der Institution umdeuten: hätte ich beispielsweise eine Professur, würde ich vielleicht bequemer werden und mich nicht mehr mit dieser Intensität meiner Unterrichtsforschung widmen! Allerdings bewirkt diese präkäre Lage, dass ich immer wieder um das Projekt bangen muss (dieses Bangen ist ja wiederum der Antrieb zu Innovationen!). Gegenwärtig beispielsweise bedrückt mich folgendes: Manfred Lirsch, der die LdL-Homepage aufgebaut hat und mir seit Jahren kongenial zur Seite steht, ist aufgrund seiner Begabung ein sehr gefragter Mann. Ich muss ständig befürchten, dass er einmal keine Zeit mehr für unsere Arbeit haben wird! Dabei ist die LdL-Homepage für mich zum Forschungsinstrument Nr.1 geworden! Ohne LdL-Homepage kann ich das Projekt nicht fortsetzen!

Mein Forschungsgegenstand

Die Phänomene, die durch die neuen Kommunikationsmittel ausgelöst werden und die ich im Kontaktnetz und in meiner Klasse direkt beobachten kann, sind faszinierend. Zum einen kann ich eine deutliche Enthierarchisierung festellen: wer Interessantes zu sagen hat, wird wahrgenommen, unabhängig von seinem Alter und seinem sozialen Status. Innerhalb unseres Netzes treten Schüler, Studenten, Lehrer allen Altersklassen und Schultypen gleichberechtigt auf. Ferner wird die Kommunikation zwischen den Beteiligten persönlicher, Konflikte werden leichter entschärft. Beispielsweise hatte ich während einer Stunde in meiner Klasse einen Schüler durch Bemerkungen verletzt - natürlich ohne es zu merken. Am selben Tag bekam ich von ihm eine ausführliche Mail, in der er seine Enttäuschung zum Ausdruck brachte. Ich konnte sofort antworten und unsere Beziehung wieder in Ordnung bringen (wie ich hoffe).

Wissenschaftlich ist das Beobachtungsfeld deswegen so interessant, weil wir erst am Anfang einer offenen Entwicklung stehen, wir also eine Fülle von Hypothesen aufstellen können und prüfen. Wir stehen deshalb erst am Anfang, weil bis jetzt nur eine kleine Gruppe von Menschen mit der nötigen Technik ausgerüstet ist und weil die technischen Möglichkeiten noch lange nicht ausgereizt sind. In den nächsten Jahren werden ständig neue Strukturen geschaffen, mit neuen Auswirkungen. Bessere Forschungsbedingungen kann ein Wissenschaftler nicht vorfinden! Diese Entwicklung im Kontaktnetz und in meiner Klasse zu beobachten ist das, was mich heute stark beschäftigt und wohl auch bis zu meiner Pensionierung beschäftigen wird (sofern ich für neue auftretende Probleme immer wieder Lösungen finde)!


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