Reflexionen über meinen Unterricht in der 11. Klasse

Eintrag 13


Jean-Pol Martin
24.02.1998

In meinem letzten Tagebucheintrag (01.02.98) habe ich den Wunsch meiner Schüler geschildert, nicht vier Stränge (Menschenkonstrukt, Geschichte, Aktualität, Grammatik) parallel zu verfolgen, sondern sich zunächst mit meinem "Menschenbild" zu befassen, dann mit dem Überblick über die Geschichte Frankreichs, dann mit den Texten des Lehrbuches HORIZONS, usw.

Diesen Vorschlag habe ich aufgegriffen und mir scheint, dass der Unterricht recht erfolgreich verläuft. Daher möchte ich dessen Fortgang detailliert beschreiben.

1. Das Menschenkonstrukt

Grundsätzlich versuche ich - wie jeder Lehrer auch - "relevantes" Wissen zu vermitteln. Da in der 11.Klasse die Schüler in einem Alter sind, wo sie sich intensiv mit existentiellen Fragen befassen, eröffne ich die Möglichkeit, über den Menschen und seine Bedürfnisse im Unterricht nachzudenken. Als Einstieg zu einer anthropologischen Reflexion verteilte ich folgendes Blatt:

Übersicht über die Funktionsweise des Menschen nach Martin (02.02.98)

  1. Ihr erinnert euch, dass der Mensch eine Reihe von Grundbedürfnissen hat und zwar vereinfacht:

    • Physiologische Bedürfnisse (Hunger, Durst, Schlaf, Sexualität)

    • Sicherheitsbedürfnis

    • Soziale Anerkennung

    • Selbstverwirklichung

  2. Ein Bedürfnis, das alle anderen einschließt, ist das Kontrollbedürfnis.
    In welchem Maße schließt das Kontrollbedürfnis wirklich alle anderen ein?

  3. Darüber hinaus lebt der Mensch im Spannungsverhältnis zwischen antinomischen Tendenzen:
       
    Zwang/..................................
    Integration/...............................
    Vernunft/...............................
    Hierarchie/...............................
    Gesellschaft/...................................
    Ordnung/........................................
    Klarheit/.........................................
    Einfachheit/.....................................
    Konkurrenz/.........................................
    Egoismus/............................................
    usw.

Diese antinomischen Tendenzen halten den Menschen ständig in Bewegung, denn wenn er das eine hat, will er das andere und umgekehrt.

Schließlich gibt es im Laufe der Geistesgeschichte zwei Interpretationsmuster im Hinblick auf eine Sinngebung des Lebens in der Welt: der Idealismus geht davon aus, dass es ausserhalb der reinen Materie ein geistiges Prinzip gibt, das die Welt ordnet, beispielsweise Gott, der Materialismus betrachtet die Welt als ausschliesslich von der Materie bestimmt.

 

Das Blatt wird ausführlich besprochen und die Schüler werden gebeten, an Beispielen aus dem Alltag zu testen, ob diese Kategorien wirklich Erklärungskraft besitzen.

2. Bedürfnistendenzen und politische Präferenzen

Es wird die These vertreten, dass Parteien nach Bedürfnistendenzen geordnet werden können, So kommen "konservative" Parteien besonders dem Wunsch nach Ordnung, Sicherheit, Klarheit und Hierarchie entgegen, während "linke" Parteien eher Bedürfnisse nach Gleichheit und Solidarität bedienen, usw. Im Unterricht soll vorerst noch keine differenzierte Analyse vorgenommen werden, denn es gilt, die Kategorien überhaupt einzuführen und durch wiederholte Anwendung zu routinisieren. Als Hausaufgabe werden die Schüler gebeten, den Schwerpunkt ihrer eigenen Bedürfnistendenzen zu erforschen. Gleichzeitig sollen sie auf diesem Hintergrund über ihre Parteipräferenzen nachzudenken. Die meisten abgelieferten Texte waren ausführlich und interessant. Dazu ein Beispiel (bitte beachten Sie, dass die Texte als Hausaufgabe für den nächsten Tag und auf französisch verfasst wurden; hier darf nicht der Deutschaufsatz als Messlatte dienen!):

 

Meine persönliche Haltung in Bezug auf die antinomischen Tendenzen und die Politik (Markus.H.)

Die Wahl zwischen Zwang und Freiheit stellt mich vor kein besonderes Dilemma: ich ziehe die Freiheit vor. Dafür gibt es mehrere Gründe, z.B. dass ich besser arbeiten kann, wenn ich frei bin. Das einzige Problem ist, dass ich faul werden kann, wenn kein Druck mich zum Arbeiten zwingt. Was die Opposition zwischen Vernunft und Gefühl angeht, so halte ich mich für rationaler als emotional, z.B. gelingt es mir, meine Hausaugaben zu erledigen, auch wenn ich keine Lust dazu habe. Natürlich kann ich mich auch emotional verhalten, wenn ich unbedingt etwas tun will; dann werden die Hausaufgaben hintangestellt. In Bezug auf den Gegensatz zwischen Hierarchie und Gleichheit, hier ziehe ich die Gleichheit vor. Ich denke z.B., dass die Lehrer uns mehr Rechte zugestehen sollten, damit wir unsere eigenen Entscheidungen treffen können. Nur so lernen wir, verantwortlich zu handeln. Aber manchmal ist es wichtig, dass jemand für uns bestimmt, denn es gelingt uns nicht immer, die richtige Entscheidung zu treffen. Zur Antinomie "Individuum und Gesellschaft": ich bin zwar in der Gesellschaft integriert, aber ich bin stolz, ein Individuum zu sein. Da ich nicht wie alle anderen sein möchte, mache ich nur das, was ich will, und ich lasse mich nicht von den anderen beeinflussen. Andererseits finde ich wichtig, in einer Gemeinschaft integriert zu sein, weil ich ohne Freunde nicht leben kann. Was die Opposition zwischen Klarheit und Unbestimmtheit angeht, so ist mir die Klarheit lieber, weil ich ohne Klarheit die Kontrolle verlieren würde. Ausserdem will ich immer genau wissen, was zu tun ist, weil ich keine Fehler machen möchte; um Fehler zu vermeiden brauche ich Klarheit. Wenn ich zwischen Einfachheit und Komplexität wählen muss, dann entscheide ich mich für die Komplexität: wenn etwas zu einfach für mich ist, habe ich keine Lust, es zu tun; ich gehe lieber schwierige Aufgaben an, die mir das Gefühl vermitteln, dass ich anspruchsvolle Herausforderungen bewältigen kann. Konkurrenz oder Zusammenarbeit? Für mich ist Zusammenarbeit wichtiger als Wettbewerb, weil ich der Meinung bin, dass man mehr erreicht, wenn man sich mit anderen zusammentut. In unserer Gesellschaft ist die Zusammenarbeit nicht so wichtig wie früher, weil jeder besser, reicher und höhergestellt als der andere sein will. Meiner Meinung nach ist das ein Fehler. Das ist der Grund, warum ich Zusammenarbeit der Konkurrenz vorziehe. Dasselbe gilt für die Opposition zwischen Egoismus und Altruismus. Da jeder besser als der andere sein will, hilft man den anderen immer seltener, im Gegenteil, man behindert sie in ihren Bestrebungen. Deshalb verliert die Kirche, die ja den Altruismus predigt, immer mehr Anhänger. Ich muss allerdings gestehen, dass ich mich manchmal sehr egoistisch verhalte. Wenn ich alle Punkte zusammenfasse, so stelle ich fest, dass ich eher ein Anhänger linker Politik bin, aber mit einer kleinen Tendenz nach rechts.

 

Besonders subtil finde ich folgende Überlegungen einer Schülerin über die Opposition zwischen Klarheit und Unbestimmtheit, bzw. Ordnung und Chaos:

Julia W.

(...) Ich möchte die Reflexion über Ordnung und Chaos mit Überlegungen über Klarheit und Unbestimmtheit verknüpfen: Klarheit und Unbestimmtheit betreffen den Kopf. Wenn man weiß, was man im Leben tun will, besitzt man Klarheit im Kopf. So denke ich, dass Chaos in Verbindung mit Klarheit besser ist als Ordnung in Verbindung mit Unbestimmtheit. Es ist nicht schlecht, wenn die Aussenwelt etwas chaotisch ist. Aber man muss den Überblick behalten, und den hat man, wenn man einen klar denkt. Leute, die immer darauf bedacht sind, dass überall Ordnung herrscht, wissen meist nicht, was sich in ihrem Kopf abspielt! Da in ihrem Kopf Unbestimmtheit herrscht, bestehen sie auf Ordnung in ihrer Wohnung, in ihrem Arbeitszimmer usw.(...)

 

3. Paradigmenwechsel

Nach intensiven Diskussionen über die oben genannten Texte und einer gewissen Verinnerlichung der Analysekategorien, kann aufzgezeigt werden, dass der Verlauf der Geschichte sich nach den antinomischen Bedürfnisgruppen aufschlüsseln lässt. Der Übergang vom Mittelalter zur Renaissance ist als Paradigmenwechsel zu bezeichnen, ebenfalls der Übergang von der Renaissance zum Absolutismus, vom Absolutismus zur Aufklärung usw.

Der Begriff "Paradigmenwechsel" wird an verschiedenen Sachverhalten exemplifiziert und es wird darauf hingewiesen, dass wir heute ebenfalls einen Paradigmenwechsel erleben. Als Hausaufgabe sollen die Schüler den Begriff "Paradigmenwechsel" an Hand von Beispielen zusammenfassend erläutern.

Zu diesem Thema bekam ich eine Vielzahl interessanter Arbeiten, insbesondere diesen Text, der auf hohem Niveau die Brauchbarkeit des von mir vorgestellten Schemas kritisch reflektiert:

 

Der Begriff "Paradigmenwechsel" am Beispiel der Geschichte (Dominik S.)

Wenn man die Geschichte der Menschheit betrachtet und die Vorstellungen, die Menschen über die Welt entwickelten, kann man einen Wechsel zwischen zwei Paradigmen beobachten: das eine Paradigma wird durch Freiheit geprägt und - wenn man Herrn Martins Schema anwendet - durch die Tendenz zu Werten wie dem Individualismus, der Komplexität usw., während das andere Paradigma entgegengesetzte Tendenzen aufweist. Wenn man wirklich die Geschichte in ein Schema einpressen will und sich auf starke Generalisierungen einlässt, dann ergibt es folgende ungleichmäßige Sinuskurve (z.B.):

paradig.gif (3089 Byte)

 Diese Kurve zeigt deshalb keine absolute Regelmäßigkeit, weil es manchmal sehr plötzliche Wechsel gibt (Revolutionen) und manchmal ganz langsame Entwicklungen. Allerdings ist kritisch anzumerken, dass man den Ablauf der Geschichte nicht richtig fasst, wenn man dieses Schema verwendet. Ich sehe nämlich folgende Probleme:

  • Das Schema verallgemeinert sehr, und ich denke, dass er für die Geschichte der Menschheit zu verallgemeinernd ist, denn jede Epoche besteht aus einer Mischung, so dass man die Entwicklung nicht auf den Wechsel zwischen lediglich zwei Paradigmen einschränken kann. Ich denke also, dass wenn man sich auf ganz starke Verallgemeinerungen einlässt, das Schema funktioniert, aber dass die Benutzung des Schemas gewisse Probleme aufwirft.

  • Das zweite Problem besteht in der Vorstellung, dass die Geschichte sich stets wiederholt. Sollte diese Wiederholung ein Gesetz sein (wie z.B. der historische Materialismus von Karl Marx) könnte man auch behaupten - und darin sehe ich das Problem - dass der Mensch, der ja ein geschichtliches Wesen ist, aus dem Gesetz der Pendelbewegung nicht ausbrechen kann und keinen Einfluss auf die Geschichte hat! Somit wäre er nicht frei. Die Geschichte wäre somit ein eigenständiges Phänomen (oder ein eigenständiges Wesen) und der Mensch wäre ohne Einfluss auf sie. Der Mensch wäre festgeschrieben in einer geschichtlichen Entwicklung, die unabhängig von ihm verlaufen würde. Ich denke, dass es schlimm wäre und offensichtlich auch nicht den Tatsachen entspricht.

 

Dieser Text war Anlass zu einer Diskussion, bei der folgende Standpunkte eingebracht wurden:

  • Es wurde die Hypothese aufgestellt, dass zwar der Mensch als Einzelner wenig Einfluss auf den Fortgang der Geschichte habe, aber dass er zusammen mit den anderen die Geschichte gestalte.

  • Es wurde erwähnt, dass auch Einzelne die Geschichte geprägt hätten (z.B. Napoleon). Dazu wurde eingewendet, dass diese Gestalten nicht als Individuum gewirkt hätten, sondern als zufällige Träger einer Entwicklung, die auch ohne sie erfolgt wäre.

Auf dem Hintergrund der neuerworbenen und im Gespräch eingeübten Erkenntniskategorien kann nun der Überblick über die französische Geschichte fortgesetzt werden.Nachdem das Mittelalter, die Renaissance (16. Jh.) und der Absolutismus (17.Jh.) behandelt wurden, wurde auf Wunsch der Schüler eine kleine Wiederholung eingeschoben. Dazu wurde folgender Fragekatalog in Partnerarbeit bearbeitet.

 

Questions sur l’histoire  

Questions sur l’histoire (26.02.98)

Répondez dans l’ordre que vous voulez!
1. Qu’évoque pour vous: 230 Mio. d’années? Et 1,5 Mio.?
2. De quand à quand faisait-il particulièrement froid?
3. Mettez de l’ordre: Egypte - Japon - Germains - Grèce - Chine - Mésopotamie - Celtes - Rome -
4. Quel est le lien entre Juliane Beck et les Celtes?
5. Traduisez: ein Überfall - auswendig - Schmied - Jagd
6. Décrivez une ville gallo-romaine, par exemple Nimes (pensez à ce que nous a raconté Ralph)
7. Qu’est-ce que le limes? Quel fut le premier chef germain qui se convertit au catholicisme?
8. Pourquoi les Arabes n’arrivèrent-ils pas à Paris en 732?
9. Que savez-vous des Normands?
10. Que se passa-t-il en 800? Et en 843?
11. Dans quelle mesure le passage du roman au gothique constitue-t-il un changement de paradigme en architecture?
12. Les cathédrales étaient-elles silencieuses au Moyen-Age
13. Qu’est-ce que le "djihad"?
14. Le 12e siècle fut-il un bon siècle? Pourquoi?
15. Qu’est-ce que Thomas Maget nous a raconté?
16. Dans ma théorie sur l’apprentissage et dans mes cours j’essaie de favoriser chez les élèves une "attitude explorative"! Dans quelle mesure? Dans quelle mesure cette attitude est-elle typique de la Renaissance?
17. Le Moyen-Age est une époque d’intégration, la Renaissance une époque de différenciation. Dans quelle mesure (pensez par exemple à la religion)?
18. Dans quelle mesure Louis XIV représente-t-il une période de forte intégration? Pensez aux symboles utilisés, à son attitude vis à vis du protestantisme etc.
19.Faites en binôme un dialogue entre un homme/une femme du Moyen-Age et un homme/une femme de la Renaissance (16e siècle), ou un homme/une femme de la Renaissance et un homme/une femme qui vit sous Louis X IV.
20. Préparez vous même une question compliquée à poser à vos camarades.

 

 

4. Vorbereitung der Frankreichreise in den Pfingstferien

Gerade bin ich dabei, eine 10-tägige Rundreise durch Frankreich in den Pfingstferien vorzubereiten, die uns zu den Loire-Schlössern, La Rochelle, Bordeaux, Toulouse, Avignon und Montbéliard führen wird. Hier wird der im Unterricht erarbeitete geschichtliche Hintergrund sicherlich sehr nützlich sein.
Zur Suche und Belegung der Jugendherbergen ist das Internet äusserst hilfreich:

http://www.fuaj.fr


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