Reflexionen über meinen Unterricht in der 11. Klasse

Eintrag 14


Jean-Pol Martin
22.05.1998

In diesem Tagebucheintrag möchte ich mich mit der Frage der Disziplin befassen. Dieser Aspekt ist zwar zentral im Leben der Schule, er wird aber kaum zum Thema gemacht: da Disziplinprobleme sofort auf die Schwächen des Lehrers zurückgeführt werden, ist niemand bereit, eigene Probleme zuzugeben und detailliert zu beschreiben. Andererseits: ohne genaue Schilderung des Übels ist auch keine Diagnose und keine Therapie möglich! Damit keine falschen Erwartungen entstehen: auch ich werde in diesem Eintrag nicht in erster Linie Disziplinprobleme schildern, sondern den Aufwand, den ich betreibe, um solche zu vermeiden. Ich werde auch aufzeigen, dass angesichts des neuen Schülerprofils die Situation nur dann in den Griff zu bekommen ist, wenn die gegenwärtigen schulorganisatorischen Bedingungen verändert werden.

1. Beschreibung der Situation: die neuen Schüler

Sowohl letztes Jahr in meiner 7.Klasse als auch dieses Jahr in der 11. stelle ich fest, dass - zumindest an meiner Schule - wir es mit äusserst energievollen, aktiven Schülern zu tun haben. Sie wollen gefordert und gefördert werden. Letztes Jahr ist es mir in der 7.Klasse gelungen, eine Gruppe zu schaffen, die sich das ganze Jahr hindurch als kreativ, lebendig und arbeitswillig zeigte. Allerdings waren immer wieder Disziplinierungsmaßnahmen notwendig. Was meine ich mit Disziplinierung? Ich gehe davon aus, dass das Triebhafte in uns ständig präsent ist, und nur mit großem Energieaufwand kurzfristig zurückgedrängt werden kann. Bei jüngeren Menschen ist Disziplinierung von aussen unvermeidlich, mit zunehmendem Alter wird auch eine Disziplinierung von Innen möglich sein (Selbstdisziplin). Wenn ich also eine Gruppe von 30 Schülern aus einer 7.Klasse unterrichte, dann muss ich dieses Triebhafte auf zwei Ebenen angehen: zum einen muss ich dafür sorgen, dass Übertretungen meiner Gesetze mit Schmerz assoziert werden, zum anderen muss ich dafür sorgen, dass das Eingehen auf meine Angebote mit Freude, also Triebbefriedigung verknüpft wird. In der 7. Klasse bedeutet es, dass ich Störungen recht streng ahnde, dafür aber einen Unterricht halte, der sehr viel Raum für freie, kreative Aktivitäten läßt. Im Laufe der Zeit stellt sich so etwas wie Selbstdisziplin ein, aber diese braucht immer noch eine starke "Hilfe" von außen, also die Angst vor Strafen.

In der 11.Klasse ist die Fähigkeit des kurzfristigen Triebaufschubs natürlich viel stärker entwickelt als in der 7. Klasse. Die Schüler sind besser in der Lage, abzuwarten, bis sie ihre Aktivitätsbedürfnisse befriedigen können. Allerdings ist der Anspruch an den angebotenen Aktivitätsfeldern auch viel höher. Während ich also eine 7.Klasse mit dem Entwickeln von kleinen Szenen, mit Rollenspielen, mit schülergeleiteten Textpräsentationen sinnvoll beschäftigen kann, sitzen in der 11.Klasse Schüler mit ganz anderen Fähigkeiten und Wünschen. Gelingt es mir nicht, ihrem Drang nach anspruchsvoller Aktivität zu entsprechen und ihnen Felder zu eröffnen, in denen sie ihre Energien zum eigenen Wachstum einsetzen, dann bleibt der von ihnen geleistete Triebaufschub ohne Belohnung. Selbstdisziplin ist hier zwecklos und die Schüler reagieren mit Ablehnung. Symptome dieser Ablehnung sind die "Disziplinprobleme".

Konkret zu meiner 11. Klasse:

Entscheidend für mein Verhältnis zu dieser Gruppe (14 Jungen, 5 Mädchen) waren die Selbstporträts, die ich am Anfang des Schuljahres anfertigen ließ. Die geschilderten Freitzeitaktivitäten waren so vielfältig und anspruchsvoll, dass mein Bild der Schüler von diesem Zeitpunkt an positiv geprägt war, unabhängig von dem, was im Unterricht ablief. Die Klasse ist energievoll, sie macht im Unterricht sehr aktiv mit, aber sie neigt gelegentlich zur Unruhe (sie erinnert mich also manchmal an die 7.Klasse). Daher ist es für mich wichtig, mir in Konfliktphasen immer wieder vor Augen zu führen, wie aktiv und interessiert diese Schüler sind.

Schilderung einer Konfliktphase:

Wie ich bereits in meinem letzten Tagebucheintrag beschrieben habe, verfolge ich inhaltich vor allem zwei Hauptstränge: zum einen lasse ich die Schüler immer wieder über sich reflektieren im Rahmen von Selbstbeschreibungen, was zur Stabilisierung der Identität beitragen soll, zum anderen führe ich einen "Durchzieher" durch die Geschichte durch und bereite jetzt eine Rundreise durch Frankreich vor (Verdun, Chateaux de la Loire, La Rochelle, Bordeaux, Montpellier, Nîmes). Vor etwa einem Monat habe ich die Schüler gebeten, Kurzreferate über die verschiedenen Etappen unserer Reise vorzubereiten. Ich kam auch mit dem entsprechenden Material und freute mich über die Aktivitäten. Von einem Schüler wurde mir im Vertrauen signalisiert, dass die Klasse eigentlich demotiviert sei. Diese Unlust würde sich nicht speziell auf mich und mein Fach beziehen, sondern richte sich generell gegen die Schule. Ich hatte dieses Motivationstief nicht wahrgenommen und war sehr dankbar für den Hinweis. Da ich der Überzeugung bin, interessante, sinnvolle Inhalte mit adäquaten Methoden zu behandeln, beschloss ich, "durchzuhalten" und abzuwarten, bis die Motivation wieder anwuchs. In dieser Phase war das Klima in der Klasse angespannt, unser aller Verhalten "regressiv". Damit meine ich eine Situation, in der die Schüler auf Fehler des Lehrers lauern, und der Lehrer sich zum Angriff bereithält.

2. Die Diagnose

Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass es sich mit dieser 11.Klasse um eine sehr sympathische, offene, freundliche Gruppe handelt. Ferner bin ich der Meinung dass ich noch nie einen so guten Unterricht in einer 11.Klasse gehalten habe, wie dieses Jahr. Wie kann es also unter solchen Idealbedingungen trotzdem vorkommen, dass Konflikte und Spannungen entstehen? Wie erst geht es dann Kollegen, die keine Muttersprachler sind, die ein 23-Stunden-Deputat haben und Klassen mit 30 und mehr Schülern führen?

Gründe für das Motivationstief in der 11. Klasse:

  • Zu dem Zeitpunkt, wo ich die Kurzreferate vorbereiten ließ, lief gerade der Projekttag. Mein "Projekt" kollidierte also mit ähnlichen Aktivitäten.
  • Die Vorbereitung von Kurzreferaten stellt keine Aktivität dar, die lustbetont ist. Dazu ist also ein Druck von außen nötig, der natürlich den "Stresser" nicht gerade sympathisch macht.
  • Mein Unterricht ist per se anstrengend, meine Haltung fordernd. In Phasen des Tiefs kann das leicht Unmut hervorrufen.

In einer solchen Situation wird vom Lehrer höchste Selbstdisziplin verlangt, denn er muss trotz Widerstände seine Forderungen aufrechterhalten, seine gute Laune und seine Offenheit bewahren, sich vor Selbstmitleid und Gejammere hüten. Das geht nur, wenn man sich kurzfristig unabhängig vom Urteil und von der Stimmung der Klasse macht und im Vertrauen auf die Qualität der eigenen Arbeit "durchhält", bis die Motivation der Schüler wieder da ist.

3. Die Therapie

Aus meiner Sicht liegt ein Hauptproblem unseres Schulwesens darin, dass die Schüler qualitativ (Energie, Erfahrung, Denkvermögen, Handlungsbereitschaft) mit einem so hohen Niveau in die Schule kommen, dass man als Einzellehrer ihre legitimen Ansprüche nur mit einem enormen Aufwand befriedigen kann. Bezogen auf meine 11.Klasse bin ich der Meinung, dass meine ganze Arbeitskraft gerade hinreicht, um diese Schüler gut zu bedienen. Andererseits: wer von meinen Kollegen kann sich einen solchen Aufwand leisten?

Es müssten folgende Forderungen erfüllt werden:

  • Der Einzelkampf der Lehrers muss durchbrochen werden. Wenn ich beispielsweise die 11. Klasse im Team mit anderen Lehrern führen würde, wüsste ich, welche Aktivitäten gerade anstehen. Ferner könnte ich Informationen über die allgemeine Stimmung in der Klasse einholen und würde nicht jede Schwierigkeit (aber auch jeden Erfolg) auf mich allein zurückführen.
  • Projekte müssen mit Kollegen geplant und durchgeführt werden. Wenn ich eine Woche lang beispielsweise mit der Deutschlehrerin, dem Englischlehrer und dem Geschichtslehrer ein Projekt über die Renaissance inklusive Exkursion gestalte, dann ist die Arbeit insgesamt viel intensiver, sie hat einen Anfang, eine Klimax und einen Schluss, sie nähert sich dadurch der Struktur des realen Lebens. Die Schüler prägen sich das Erlebte viel besser ein.
  • Über den 45-Minuten-Takt war ich mir bisher nicht ganz schlüssig. In der letzten Zeit stelle ich fest, dass dieser Takt schon sehr störend sein kann: zum Beispiel lasse ich gegenwärtig Plakate anfertigen, auf denen die Etappen unserer Frankreichreise dargestellt werden. Der Fleiß meiner Schüler ist tadellos, aber ihre Arbeit wird immer wieder unterbrochen, weil die Stunde zu Ende ist. Was uns am Stück höchstens 90 Minuten beschäftigt hätte, zieht sich durch die Unterbrechungen des 45-Minuten-Taktes jetzt seit mehr als einer Woche hin. Das gilt nicht nur für die Erstellung von Plakaten, sondern auch für jede längere Arbeit (Kurzreferate, Klassenkorrespondenz usw.). Wird dadurch der oft beklagten Oberflächlichkeit des modernen Lebens nicht Vorschub geleistet?

Diese Forderungen sind natürlich nicht originell. An vielen Schulen werden sie schon erfüllt. Ich glaube, diese Schulen sind auf dem richtigen Weg.

 

PS. In meinem letzten Kontaktbrief hatte ich ganze Pakete von Selbstbeschreibungen meiner Schüler mitversendet. Die Kollegin Inge Auburger aus Weiden hat mir Texte ihrer Schülerinnen zugeschickt. Daraufhin haben meine Schüler wiederum Kommentare zu den Texten der Weidener Mädchen verfasst. Alle Texte sind in der Homepage zu lesen.


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