Reflexionen über meinen Unterricht in der 11. Klasse

Eintrag 16


Jean-Pol Martin
20.07.1998

Im Anschluss an die Frankreichreise, am ersten Tag nach den Ferien habe ich folgendes Blatt im Unterricht ausgeteilt (ich gebe hier sowohl die deutsche als auch die französische Fassung):

Deutsche Fassung                   Französische Fassung


EINIGE THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN IM ANSCHLUSS AN UNSERE FRANKREICHREISE (12.06.98) Martin

Im Anschluss an unsere Reise sind mir ein paar Gedanken gekommen, die ich euch vorstellen möchte:

1. Vorbemerkungen: Zunächst stelle ich fest, dass alle meine Annahmen bestätigt wurden. Die Schüler der 11.Klasse (ihr, aber auch alle anderen) sind so weit, dass jeder Lehrer, wenn er nicht über gute Techniken verfügt, überfordert ist. Tatsächlich gibt es kein Fach, in dem mindestens ein Schüler aus der Klasse dem Lehrer nicht überlegen wäre: in eurer Klasse sind mir praktisch alle überlegen in Musik, in Sport, in Mathematik, Physik, Geographie, Biologie, Englisch, usw. Selbst in den Gebieten, in denen ich mich gut auskenne (Geschichte und Literatur), gibt es Leute, die mir tendenziell überlegen sind (Joseph in Geschichte und Bernd und Markus H. in der Erstellung literarischer Texte). Meine Überlegenheit beruht lediglich auf der Tatsache, dass ich viel älter bin und deshalb über mehr Erfahrung verfüge, also über mehr abstrakte Schemata (kognitive Landkarte) und über mehr Distanz. Ich sehe vor allem Strukturen, und erst dann die Menschen.

Das führt oft zu Missverständnissen. Wenn ich ein konkretes Beispiel benutze, meinen die Leute oft, dass ich über sie spreche, während ich nur ein Beispiel liefere, damit jeder versteht was ich meine (z.B. die Kissenschlacht im Bus als Beispiel für Regression). Da ich über mehr Distanz verfüge, kann ich besser unterscheiden zwischen dem, was wichtig ist, und dem, was nebensächlich ist (wenn die Jugendherberge schmutzig ist, seid ihr nicht bedroht! Wenn ich eine alte Krabbe in den Mund stecke, bin ich nicht in Gefahr. Aber wenn der Fahrer schlecht geschlafen hat und schlechte Laune hat, kann es wichtige Auswirkungen auf die Reise haben).

 

2. Einige Begriffe

2.1 Chaos und Ordnung (Elemente der Systemtheorie):

Wenn man eine Struktur, eine Ordnung aufgebaut hat, die funktioniert, will man sie natürlich behalten. Man will vor allem nicht das Risiko eingehen, bei der Suche nach einer anderen Ordnung dem Chaos zu begegnen. Dies betrifft auch einfache Strukturen, wie beispielsweise die Familie: Vater, Mutter, zwei Kinder. Wenn die Kinder groß werden, muss man die Strukturen änderen, aber meist wollen die Eltern an den bestehenden Strukturen festhalten. Wenn eine Veränderung unabdingbar geworden ist (ein Kind heiratet), versucht man die neue Struktur so nah wie möglich an der bestehenden zu halten (das Kind sollte jemanden heiraten, der den anderen Familienmitgliedern ganz ähnlich ist, d.h. möglichst aus Bayern, aus derselben sozialen Schicht, katholisch...) Aber die Neugestaltung der Struktur ist immer eine Notwendigkeit, weil alle Bestandteile der Struktur sich kontinuierlich verändern: in einer Familie werden die Eltern alt, die Kinder wachsen, die Großeltern sterben, usw. In einer Gesellschaft verändern sich die Produktionsmittel, die Bevölkerung wächst oder sie nimmt ab, die Technologie macht Fortschritte, etc. DIE STRUKTUREN ZU OPTIMIEREN IST ALSO EINE NOTWENDIGKEIT!

Nun enthält jede Neugestaltung ein Risiko, denn sie geht über eine Phase des Chaos, die auch zu einer Regression des Systems führen kann (z.B. das dritte Reich, der Kommunismus im Osten), oder einen Fortschritt (beispielsweise die Machtübernahme in Beaugency und deren Auswirkungen auf unsere Reise). Ausserdem enthält jede Reorganisation eine Phase des Chaos, die man aushalten muss, ohne die Geduld zu verlieren und mit Optimismus (in Beaugency wären einige Schüler gerne zur traditionellen Struktur zurückgekehrt, mit klarer Führung des Lehrers)!

In welchem Maße trifft diese Beschreibung auch auf den Globalisierungsprozess zu, in dem wir uns gerade befinden? (6. Kondratjev)

 

2.2 Kommunikation (die Gehirnmetapher)

In der Reorganisationsphase, in der wir uns befinden (Globalisierung), sind die intellektuellen Ressourcen aller unabdingbar. In meinem Unterricht, während der Frankreichreise, innerhalb meines LdL-Netzes richte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf den Aubau von Strukuren, die uns ermöglichen, alle Ressourcen auszuschöpfen, die in jedem stecken.Deshalb spielt das Konzept der "Andockbarkeit" eine große Rolle in meinem Modell. Um ein einziges Beispiel zu nennen: während der Reise war Claudius stets "andockbar" und konnte der Gemeinschaft ein Maximum an Ressourcen bieten. In der Zukunft, um die Probleme zu lösen, die sich der Menschheit stellen, werden wir die Denkkapazitäten aller benötigen. Dazu wird es notwendig sein, die Kommunikation zwischen den Menschen zu erleichtern. Mein Modell orientiert sich an der Struktur des Gehirns. Jeder von uns lässt sich mit einem Neuron vergleichen, das mit den anderen Neuronen in Verbindung gesetzt werden soll. Die Gasamtheit aller Interaktionen bringt so etwas wie ein Makrodenken hervor. Das Internet ist der konkrete Ort, in dem dieses Denken entsteht. Seit meiner Rückkehrt aus Frankreich habe ich bereits 5 Interaktionen mit Eduard und Martin bezüglich unserer 11 b/c Homepage, nur deshalb, weil Eduard und Martin über einen eMail-Anschluss verfügen. Je mehr Interaktionen zwischen den "Neuronen", desto reichhaltiger wird das globale Denken sein!

 

2.3 Kreativität, exploratives Verhalten

"Kreativität" wird als Fähigkeit definiert, neue, nützliche Strukturen zu entwickeln, mit denen auftretende Probleme gelöst werden können. Um Innovationen zu entwickeln, also neue Strukturen zu schaffen, muss man bereits existierende Strukturen auf neuartige Weise kombinieren. Dazu muss man bereits viele Schemata in seinem Kopf gespeichert haben. Diese Schemata sind einerseits Ergebnis realer Erfahrungen, andererseits Abläufe, die man nicht wirklich erlebt hat, die man aber in seinem Kopf entwickelt und aus praktischen Gründen wieder verworfen hat, die man aber als Vorrat gespeichert hat. Deshalb ist es günstig, immer wieder Alternativen für die Zukunft zu entwickeln und gegenüberzustellen, selbst wenn man weiss, dass 95% ungenützt bleiben werden. Aber immerhin könnten 5% nützlich sein! Meine Botschaft lautet folglich: seid explorativ, entweder indem ihr reale Reisen durchführt, oder indem in zumindest in ihren Köpfen "reist"!


Französische Fassung

QUELQUES REFLEXIONS THEORIQUES A L’ISSUE DE NOTRE VOYAGE EN FRANCE (12.06.98) Martin

A l’issue de notre voyage il m’est venu quelques idées que je tiens à vous présenter ici:

1. Remarques préliminaires: Tout d’abord je constate que mes hypothèses ont été dans l’ensemble vérifiées. Les élèves de 11e (vous, mais aussi tous les autres) sont tels, que tout professeur, s’il ne dispose pas de bonnes techniques, est dépassé ("überfordert"). En effet, il n’existe aucune spécialité dans laquelle au moins un élève ne soit pas supérieur au professeur: dans votre classe pratiquement tous me sont supérieurs en musique, en sport, en mathématiques, physique, géographie, biologie, anglais, etc. Même dans ma spécialité (histoire, littérature) il y a des élèves qui sont tendenciellement meilleurs que moi (Joseph en histoire, Markus H. et Bernd P. dans la production de textes littéraires).

Ma supériorité réside uniquement dans le fait que je suis beaucoup plus vieux et que j’ai donc plus d’expérience, c’est à dire plus de schémas abstraits (kognitive Landkarte) et de distance. Je vois avant tout les structures et ensuite les personnes. Cela donne souvent lieu à des malentendus. Quand je prends un exemple concret, les gens croient que je parle d’eux, alors que je donne seulement un exemple pour que tout le monde comprenne ce que je veux dire (bataille de polochons dans le car comme exemple de régression). Comme j’ai plus de distance, cela me permet de mieux distinguer ce qui est important de ce qui ne l’est pas (si l’auberge de jeunesse est sale, vous n’êtes pas menacés! Quand je mets un vieux crabe dans ma bouche, je ne cours aucun danger etc. Mais si le chauffeur a mal dormi et est de mauvaise humeur, cela risque d’avoir des répercussions importantes pour le voyage).

 

2. Quelques concepts:

2.1 Chaos et ordre (éléments de la théorie des systèmes):

Il est évident que quand on a trouvé une structure qui fonctionne, un ordre, on veut le garder. Surtout on ne veut pas risquer de chercher un autre ordre qui pourrait conduire au chaos. Ceci concerne des structures simples, comme par exemple celle d’une famille: Papa, maman, deux enfants. Quand les enfants grandissent, il faut changer les structures, mais en principe les parents résistent à cette nécessité. Si un changement est inévitable (un des enfants se marie), on cherche à ce que la nouvelle structure soit aussi proche possible de l’ancienne (l’enfant doit épouser quelqu’un qui soit semblable aux autres éléments, c’est à dire si possible bavarois, du même milieu social, catholique...) Mais la réorganisation des structures est toujours une nécessité, parce que tous les éléments de la structure sont en continuelle évolution: dans une famille les parents vieillissent, les enfants grandissent, les grands-parents meurent etc. Dans une société les modes de production changent, la population augmente ou diminue, les technologies progressent, etc. DONC IL FAUT TOUJOURS OPTIMISER LES STRUCTURES!

Or chaque réogranisation comporte un risque, car elle passe par une phase de chaos qui peut déboucher soit sur une régression du système (par exemple le 3e Reich, le communisme à l’est), soit sur un progrès (par exemple la prise du pouvoir de Beaugency et les conséquences sur notre voyage). Par ailleurs chaque période de réorganisation comporte des phases de chaos à travers lesquelles il faut passer sans perdre patience et avec optimisme (à Beaugency certains élèves auraient voulu retourner à la structure traditionnelle, où le professeur dirige, plus familière mais complètement stérile)!

Dans quelle mesure cette description s’applique-t-elle également au processus de mondialisation dans laquelle nous sommes engagés?
(Le 6e Kondratjev)

2.2 Communication (la métaphore du cerveau)

Dans la phase de réorganisation mondiale dans laquelle nous sommes engagés toutes les ressources intellectuelles de chacun sont indispensables. Pendant mes cours, pendant le voyage en France, à l’intérieur de mon réseau LdL toute mon attention est concentrée sur le développement de structures nous permettant d’utiliser au maximum toutes les ressources de chacun. C’est pourquoi mon concept de disponibilité ("Andockbarkeit") joue dans ma théorie un rôle considérable. Pour ne citer qu’un seul exemple, pendant le voyage, Claudius était constamment disponible et a pu livrer un maximum de ressources à la communauté.

Dans l’avenir, pour régler les problèmes qui se posent dans le monde, nous aurons besoin de l’intelligence de tous. Pour cela il faudra faciliter la communication entre les gens. Mon modèle s’inspire de la structure du cerveau. Chacun de nous est un neurone qu’il faut mettre en communication avec les autres neurones. La somme de toutes les interactions produit une macropensée à l’échelle mondiale. L’internet est le lieu concret de cette pensée. C’est ainsi que depuis notre retour de France j’ai déjà eu 5 interactions avec Eduard et Martin à propos du site de la 11b/c sur internet, uniquement parce qu’Eduard et Martin sont "andockbar" par courrier électronique. Plus il y aura d’interactions entre les "neurones", plus la pensée globale sera riche et de qualité.

 

2.3 Créativité, attitude explorative

On définit la créativité comme la capacité de développer des structures nouvelles, positives, susceptibles de résoudre des problèmes qui se posent. Pour innover, c’est-à-dire créer des structures inédites, il faut combiner des structures existantes de facon nouvelle. Pour cela il faut avoir enmagasiné beaucoup de schémas dans sa tête. Ces schémas sont d’une part le résultat d’expériences concrètes, d’autre part des modèles qu’on n’a pas réellement vécus, mais qu’on a créés dans sa tête et peut-être rejeté pour des raisons pratiques, mais mis en réserve à tout hasard. C’est pourquoi il est bon de rechercher sans arrêt des alternatives pour l’avenir et de les comparer, sachant évidemment que 95% seront rejetées. Mais 5% de ces modules pourront être utilisés! Mon message est donc: soyez exploratifs, soit en voyageant concrètement, soit en "voyageant" dans vos têtes!


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