Reflexionen über meinen Unterricht in der 7.Klasse

Eintrag 6


Jean-Pol Martin
12.01.97

Seit dem Beginn des Schuljahres 1996/97 befasse ich mich viel mit der Frage der "Disziplin". Das Thema hatte mich bisher kaum beschäftigt, denn in den letzten 17 Jahren hatte ich nur kleinere Klassen mit "braven" Schülern. Es war also nicht notwendig, den Kindern Strukturen "aufzuzwingen". Da der Prozeß der Disziplinierung der Schüler in meiner 7. Klasse nun offensichtlich abgeschlossen ist, möchte ich rückblickend darüber reflektieren. Der Anlaß zu dieser Reflexion liefert mir insbesondere die Tatsache, daß ich zahlreiche Einladungen von Elternbeiräten in diversen bayerischen Städten bekomme habe und den Eltern ein kohärentes Konzept anbieten möchte. Und so lautet meine Analyse:

Der "neue" Schüler

"Er zeichnet sich aus durch größere Verstandeskräfte, mehr Kenntnisse, vielfältigere Erfahrungen und größere Flexibilität, aber auch durch geringere Konzentrationsfähigkeit, weniger Anstrengungsbereitschaft und Durchhaltevermögen, Interessenbindung durch ein breites Freizeitangebot, häufig soziale Isolation sowie mangelnde Frustrationstoleranz."
so die Beschreibung aus: Forum Eltern-Lehrer-Schüler. Das Würzburger Kooperationsmodell FELS von Bernhard Meißner et al. (1996).

Dieses Bild scheint mir zuzutreffen. Daß unsere Kinder eine größere Verstandeskraft, Offenheit und ein größeres Wissen in die Schule bringen, liegt sicherlich an dem Umstand, daß wir uns zu einer Informationsgesellschaft entwickelt haben. Zu den negativen Aspekten (insbesondere die geringe Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer) ist zu sagen, daß seit meiner Kindheit die Welt eine enorme Beschleunigung erfahren hat. Sowohl innerhalb als auch außerhalb des Elternhauses werden Wünsche viel schneller geweckt und befriedigt. Kinder sind daran gewöhnt, schnell zu handeln und schnell das Ergebnis ihrer Handlungen zu erfahren. Nun verlangsamt der Unterricht - oft aus gutem Grunde - viele Prozesse. Die Schüler müssen lernen, diese Verlangsamung auszuhalten und Selbstdisziplin zu üben. Ferner scheint es, daß gewisse Strukturen, die früher zur zeitweisen Unterordnung und Disziplinierung im Elternhaus führten, in der heutigen Gesellschaft entfallen sind. Es verlangt viel Einsatz und Reflexion von seiten der Eltern, wenn sie ihre Kinder bereits selbstdiszipliniert in die Schule schicken wollen. Aus diesem Grunde wird die Aufgabe, die Kinder zur Selbstdisziplin zu erziehen, weitgehend den Lehrern übertragen. Ich halte das nicht für schlimm! Ich meine nur, daß es neue Strategien in der Schule und im Unterricht erfordert.

Neue Strategien in der Schule und im Unterricht

Die veränderte Lage verlangt, daß nicht nur - wie es bisher der Fall war - der Grundschullehrer systematisch Routinen und Strukturen einführt und konsequent einfordert, sondern auch der Lehrer auf der Unter- und Mittelstufe. So verlange ich in der 7.Klasse, im Einklang mit meinen Kollegen, wenn ich das Klassenzimmer betrete, daß die Schüler aufstehen und erst bei meinem Signal wieder Platz nehmen.




In einer Art Crash-Kurs müssen also Routinen und Disziplin eingeübt werden. Allerdings, und das unterscheidet die heutige Situation von der früheren, muß der Aufwand, den der Schüler zur Selbstdisziplinierung aufbringt, durch das Angebot eines interessanten und abwechslungsreichen Unterricht belohnt werden.
Früher hat sich der Schüler mit einem relativ impulsarmen Unterricht zufriedengegeben. Heute ist es anders: die Schüler sind bereit, massive Forderungen in Richtung Konzentration und Selbstdisziplin zu erfüllen, wenn sie dafür ein Feld bekommen, auf dem sie sich wirklich entfalten und ihre positive Energien voll einbringen können. Dies ist aus meiner Sicht nur dann wirklich zu realisieren, wenn man handlungsorientierte Methoden anwendet.

Die Aufgabe des Lehrers ist also eine doppelte. Einmal muß er Rituale und Gesetze einführen und auf deren Einhaltung bestehen, zum anderen muß er ständig für einen inhaltich und methodisch besonders interessanten Unterricht sorgen. Damit ist er in der gegenwärtigen Situation absolut überfordert. In der Tat:
es ist mir nur deshalb gelungen, in der 7.Klasse Routinen einzuführen und einzuhalten, weil ich mich voll auf diese Klasse konzentrieren konnte. Bei nur einer Klasse ist es möglich, ständig die Hausaufgaben zu kontrollieren, immer nachzuprüfen, ob ein Schüler, der seine Aufgabe vergessen hat, sie wirklich nachschreibt, bei ihm zu Hause anzurufen, wenn sich dies wiederholt usw. Das interpretieren die Schüler als "konsequent" und die Strukturen schleifen sich ein. Dies betrifft auch die Qualität des Unterrichts: bei nur einer Klasse ist es möglich, ständig nach Abwechslung im Unterricht zu streben. Bei sechs Klassen oder mehr geht das nicht mehr.

Forderungen an Gesellschaft und Politik

Mein Eindruck ist, daß, wenn Schüler optimal unterrichtet werden, sie ein Fach wie das Französische mit 5 Wochenstunden nach drei Jahren voll beherrschen und in diesem Fach keinen Schulunterricht mehr brauchen. Dies gilt sicherlich auch für andere Fächer. Bei optimalen Unterricht würden die Schüler also ökonomischer lernen und schneller die Schule verlassen.
Damit die Lehrer einen optimalen Unterricht halten, müssen sie einerseits, was die Klassenstärke und das Lehrdeputat betrifft, entlastet werden, andererseits sich kontinuierlich fortbilden.

Die Forderung an den Staat wäre also:
Geben Sie uns weniger Schüler pro Klasse und lassen Sie uns weniger Stunden abhalten, dafür verpflichten wir uns, uns kontinuierlich fortzubilden und einen modernen Unterricht zu halten, der die Schüler besser ausbildet und schneller aus der Schule entläßt. Dazu brauchen Sie nicht einmal mehr Lehrer einzustellen, denn die Gesamtheit der zu erteilenden Stunden, würde sich ja verringern!



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