Reflexionen über meinen Unterricht in der 11.Klasse

Eintrag 9


Jean-Pol Martin
3.10.1997

Auch wenn ich eine Fülle von neuen Erkenntnissen im letzten Schuljahr in der 7.Klasse gewonnen und vom Anfang bis zum Ende einen sehr spannenden LdL-Unterricht erlebt habe, habe ich unseren Schulleiter in diesem Jahr um eine Oberstufenklasse gebeten. In der Oberstufe geht es um die Vorbereitung der Schüler auf eine berufliche Tätigkeit, also um die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, und diese Aufgabe interessiert mich ganz besonders. Ich ging auch davon aus, dass ich in der Oberstufe Schüler finden könnte, die besser als Unterstufler in der Lage sind, mit den neuen Kommunikationstechniken umzugehen. Ein weiterer Aspekt hat mich bewogen, eine Oberstufenklasse zu wünschen: ich gestalte sehr gerne Frankreichreisen was mit älteren Schülern leichter durchzuführen ist.

 

Meine 11.Klasse

Die Klasse (15 Jungen und 5 Mädchen, naturwissenschaftlicher Zweig, 4 Wochenstunden Französisch) gefällt mir sehr gut, weil in ihr eine ganze Palette von Interessen und Fähigkeiten vertreten wird. Ein Schüler beispielsweise organisiert deutsch-französische Begegnungen in seiner Freizeit, eine Schülerin ist im Bund Naturschutz engagiert und betreut eine Kindergruppe, die meisten Schüler der Klasse reisen viel und gerne; schließlich sitzt auch ein Schüler in der Klasse, der mir besonders geeignet für die Betreuung unserer eMail-Aktivitäten erscheint.

Natürlich kenne ich die Klasse erst seit zwei Wochen und weiss noch nicht, ob sie mit mir zurechtkommen wird.

 

Auf intellektuelle Qualität der Beiträge drängen, von Anfang an!

Grundsätzlich stelle ich bei dieser 11. Klasse gewisse Defizite in Bezug auf die Kommunikation im Klassenzimmer fest. Ich habe das Gefühl, dass die Schüler noch nicht daran gewöhnt sind, sich gegenseitig anzusprechen und zuzuhören. Das liegt m.E. daran, dass sie noch nicht gelernt haben, im Fremdsprachenunterricht Beiträge zu liefern, die ihrem intellektuellen Niveau entsprechen. Es verhält sich so, als ob es bisher genügt hätte, wenn sie irgendeinen korrekten, inhaltlich sinnvollen aber anspruchslosen Satz auf Französisch geäußert hätten, um den Lehrer zufriedenzustellen. Da der Inhalt des Gesagten nicht wirklich interessant ist, ist die Motivation, zuzuhören gering.

Dazu gebe ich ein konkretes Beispiel:

Nachdem ich die Grundbedürfnisse nach Maslow eingeführt und in einer nachfolgenden Stunde mich mit den Berufswünschen der Schüler befasst hatte, stellte ich die Frage, inwiefern der Beruf für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse wichtig sei. Nach einer Vorbereitung in Partnerarbeit bat ich einen Schüler, die Auswertung zu leiten. Eine Schülerin äußerte, dass der Beruf für die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse wichtig sei, weil man nur über einen Beruf Geld verdienen könne. Der nächste Schüler lieferte ungefähr denselben Gedanken. Wäre dieses Gespräch auf Deutsch verlaufen, hätte der Diskussionsleiter sofort auf diese Wiederholung hingewiesen. Im Französischen scheint es aber, dass die Erwartungen an die intellektuelle Qualität der Beiträge nicht sehr hoch sind und alle zufrieden sind, wenn überhaupt ein Satz in der Zielsprache und zum Thema geäußert wird! Nachdem ich den Diskussionsleiter auf die Redundanz der Gedanken hingewiesen hatte, achtete er auf Wiederholungen und Widersprüche, so dass immer differenzierter argumentiert wurde; das Niveau der Reflexion stieg an und alle hörten allmählich gespannt zu. Es scheint, dass die Schüler plötzlich gemerkt hatten, dass auch im Fremdsprachenunterricht auf die intellektuelle Qualität der Beiträge geachtet wird.

Diese Erfahrung habe ich übrigens auch in der Unterstufe gemacht. Die Schüler sind natürlich bereit, konzentriert und aufmerksam mitzuarbeiten, aber die Äußerungen der Mitschüler oder des Lehrers müssen anspruchsvoll und spannend sein. Deshalb lasse ich den Schülern immer wieder Zeit, damit sie in Partnerarbeit ihre Beiträge vorbereiten können, bevor sie diese im Plenum äußern. Die oft eintretenden Denkpausen dürfen nicht als Phasen der Langeweile interpretiert werden, sondern als Zeit zur Entwicklung von komplexeren Gedanken. Man kann gut beobachten, wie nach einer besonders schwierigen Frage zunächst keine Wortmeldung erfolgt. Hat man die Geduld, zu warten, dann hebt sich eine Hand, dann die nächste und es werden immer mehr.


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