Lernen durch Lehren: Versuch einer Definition
von Dr. Margret Ruep / Sinsheim


Lernen durch Lehren - im folgenden mit LdL abgekürzt - ist eine Unterrichtsmethode, die von Jean-Pol Martin entwickelt, anthropologisch begründet und seit etwa 20 Jahren praktiziert wird. Martin ist Dozent an der Universität Eichstätt und führt LdL sowohl mit Schülerinnen und Schülern von Realschule und Gymnasium sowie mit Studenten sehr erfolgreich durch.

Lernen durch Lehren setzt ein spezifisches Bild von der Welt und vom Menschen voraus. Es wird angenommen, daß wir in einer Welt leben, innerhalb der sich ein Paradigmenwechsel vollzogen hat und noch vollzieht; innerhalb der Naturwissenschaften wird gar von einem „Paradigmenwechsel in Serie“ gesprochen. Das bedeutet, daß das für ein Zeitalter verfügbare gesicherte Wissen innerhalb kürzester Zeit in Frage gestellt und erneuert bzw. ergänzt und erweitert wird. Was gestern als unbestritten galt, ist heute veraltet und in seiner Gewißheit auch schon wieder angezweifelt. Die Welt der Zukunft ist also zunehmend offen und unsicher.

War nun Bildung in früheren Zeiten ein Vorgang und ein Zustand, der als zu erreichendes Idealziel irgendwann als vollendet gedacht war, so ist heute der gebildete Mensch derjenige, der offen, neugierig und zukunftsgewandt, also „explorativ“ ist. Aufgabe der „Bildungsinstitution Schule“ muß es nun vorrangig sein, exploratives Verhalten zu erzeugen, zu trainieren und aufrechtzuerhalten. Dies erfordert Methoden, die genau dieses Verhalten im Blick haben und die außerdem auf die spezifisch menschlichen Voraussetzungen reflektieren.

Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß Menschen in biologischen Bedingungen wurzeln, aus denen Bedürfnisse erwachsen, die als Grundlage nicht außer Acht gelassen werden können, wenn Menschen im Mittelpunkt der Überlegungen stehen; letzteres ist bei der Reflexion von Bildung und Erziehung stets der Fall. Menschen haben neben physiologischen Bedürfnissen einen besonders stark ausgeprägten Wunsch nach Sicherheit, nach Zugehörigkeit, Liebe und Wertschätzung sowie nach Selbstverwirklichung. Erst wenn diesen Bedürfnissen Rechnung getragen wird, bildet sich die Basis für die Auseinandersetzung mit der Welt. Das kognitive Instrumentarium hierfür läßt sich definieren über Gegensatzpaare wie „Hilflosigkeit und Kontrolle“, „Chaos und Ordnung“ oder „Komplexität und Einfachheit“. Gerade ersteres spielt für schulisches Arbeiten eine herausragende Rolle; wenn nämlich im Rahmen einer Gruppensituation eine Seite sich ausnehmend kontrollierend verhält, wird die andere Seite besonders unsicher. Loslassen und Kontrolle abgeben, setzt aber persönliche Sicherheit voraus bei demjenigen, der Kontrolle auf Kosten eigener Sicherheit abgibt. In einer Klassensituation ist nun die Voraussetzung für exploratives Verhalten bei Schülerinnen und Schülern die Übernahme von Verantwortung in selbständigen Lernsituationen. Dies impliziert nun, daß Lehrerinnen oder Lehrer ihre Kontrollfunktion zugunsten der einzelnen Schülerinnen oder Schüler abgeben. Vorausgesetzt wird unweigerlich, daß Lehrerinnen und Lehrer Schülerinnen und Schüler als gleichwertige Menschen betrachten können, denen etwas zugetraut werden kann. Aus diesem Zutrauen wächst verantwortliche Verpflichtung, Erfolg, intrinsische Motivation und eben exploratives Verhalten.

Lernen durch Lehren setzt dieses Menschenbild ebenso voraus, wie es zu dieser Sichtweise des Menschen verhelfen kann, wenn nämlich im Verlauf dieser Methode deutlich wird, zu welchen Leistungen Schülerinnen und Schüler fähig sind.

LdL heißt, daß Schülerinnen und Schüler zu Lehrpersonen werden, Unterrichtssequenzen oder Gesamtunterrichtseinheiten leitend und verantwortlich vorbereiten, durchführen und reflektieren. Sie lernen den „Stoff“ nicht nur, sondern sie planen die methodische Vorgehensweise der Stoffvermittlung; damit erwerben sie didaktisch-methodische Kompetenzen. Schülerinnen und Schüler trainieren ihre eigene Sozialkompetenz, indem sie bereits bei der Vorbereitung mit dem jeweiligen Lehrer Besprechungen durchführen und mit der Klasse in ihrem sozialen Kontext umgehen lernen. Dies geschieht - um der eigenen Sicherheit willen - im Tandem oder in der Gruppe. Daß neben Verantwortung auch Tugenden wie Rücksichtnahme, Höflichkeit, Genauigkeit, Pünktlichkeit oder Fleiß entwickelt werden können, liegt auf der Hand.

Die Methode vereint sachliche, methodische und soziale Kompetenz und führt zu einer Stärkung des Vertrauens in die eigenen Fähigkeit. Damit stellt LdL weniger eine Methode als eher ein Unterrichtsprinzip dar, das im besten Sinne einen erziehenden Unterricht darstellt insoweit, als die je individuelle Persönlichkeit in gleichem Maße gestärkt wird, als Sachen innerhalb eines sozialen Rahmens geklärt werden.

Lehrerinnen und Lehrer mögen sich fragen, welche Rolle sie bei dieser Vorgehensweise haben. Sie werden nicht mehr die „Macher“ sein und alle Unterrichtsschritte in der Hand halten. Vielmehr beraten sie bei der Vorbereitung, greifen während des Unterrichts helfend ein. lenken ihn bei Bedarf, achten auf sachliche Solidität, stützen die Motivation durch Zuwendung, Wertschätzung, Zutrauen und Lob. Lehrerinnen und Lehrer sind Mitlernende, nicht Allwissende oder gar Besserwissende; sie sehen in Kindern und Jugendlichen das in ihnen steckende Kräfte- und Fähigkeitenpotential, geben quasi Vertrauensvorschuß auf das Mögliche und erreichen dadurch mehr Persönlichkeitsentwicklung bei ihren Schülerinnen und Schülern als in traditionellem Unterricht.

Einsatzmöglichkeiten im Unterricht

Es ist möglich, den gesamten Unterricht auf der Grundlage des LdL-Prinzips aufzubauen. Dazu gehört eine intensive Planung des gesamten Jahresstoffs zusammen mit der betroffenen Klasse. Die Schülerinnen und Schüler werden mit den Inhalten des Bildungsplans vertraut gemacht, in kleineren Einheiten wird der Stoff in Kleingruppen - in der Regel zwei Schüler/innen - aufgeteilt. Die Schülerinnen und Schüler besprechen mit dem Lehrer den Unterrichtsablauf und die zu verwendenden Methoden und Sozialformen.

Ideal ist dies, wenn die Klasse nicht zu groß ist. Insbesondere im Bereich der Fremdsprachen ist LdL in dieser Form ausreichend erprobt und erfolgreich durchgeführt worden, gerade von Jean-Pol Martin selbst.

Es lassen sich aber auch kleinere Unterrichtssequenzen von Schülerinnen und Schülern durchführen. Dies ist dann zu empfehlen, wenn man als Lehrer noch nicht viel Erfahrung mit der Methode hat und zunächst selbst Sicherheit gewinnen muß. Es ist notwendig, daß Lehrerinnen und Lehrer selbst erfahren, wieviel sie Schülerinnen und Schülern zutrauen können. Aus meiner Sicht ändert sich mit der Anwendung der Methode auch zwangsläufig die Haltung einer Lehrperson, weil durch die Methode selbst Schülerinnen und Schüler Kompetenzen zeigen können, die in einem anderen Unterricht nicht möglich sind. Dadurch bietet sich für Lehrer ein Beobachtungsfeld, das ihnen ein Lernen mit den und über die Schüler ermöglicht.

weitere Schriften:

 


Frau Dr. Ruep ist Rektorin der Kraichgau-Realschule in Sinsheim (Baden-Württemberg). Sie setzt LdL seit ca. 4 Jahren an ihrer Schule (800 Schüler; 50 Lehrer) erfolgreich ein.

Kontaktadresse (privat): Dr. Margret Ruep, Marktplatz 5, 76669 Bad Schönborn, Tel.: 07253/31514